Frieden, Demokratie, Freiheit: Was auf dem Spiel steht

Europa wählt – Im Juni entscheiden die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU), wer sie im Europäischen Parlament vertritt. Die Wahl findet in allen Staaten der EU statt. In Deutschland wird am 9. Juni gewählt

(c) Andreas Steindl
Datum:
29. Mai 2024
Von:
Kathrin Albrecht

Die bange Frage: Wie viel bleibt von der Idee Europa übrig? Wie stark werden die rechtsextremistischen Kräfte in den einzelnen Ländern, nicht nur in Deutschland? 
Fragen, die die KirchenZeitung in dieser Schwerpunkt-Ausgabe stellt. 

Europa steht für Frieden, für Demokratie und für ein Leben in Freiheit. Die weltweit einzigartige europäische Einigung hat Europa darüber hinaus länderübergreifend Stabilität und Wohlstand gebracht. Nun liegt es an den Europäerinnen und Europäern, an uns allen, dieses Europa zu stärken und angesichts zahlreicher Krisen zukunftsfähig zu gestalten. Mit der Wahl am 9. Juni in Deutschland besteht die Gelegenheit, die Weichen für die Zukunft der Europäischen Union zu stellen.

Die Vorsitzenden der christlichen Kirchen rufen deshalb jeden dazu auf, seine Stimme zu nutzen: „Wir leben in politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich herausfordernden Zeiten. Die EU sieht sich in ihrer Nachbarschaft und weltweit zunehmend mit aggressiven autokratischen Systemen konfrontiert. Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine, der 2014 mit der Annexion der Krim begonnen und im Februar 2022 eine entsetzliche Eskalation erfahren hat, herrscht wieder Krieg in Europa. Die Auswirkungen dieses Krieges sowie weiterer Konflikte und Krisen sind bis in unsere Gesellschaft und in der ganzen EU spürbar und werden die europäische Politik der kommenden Jahre prägen.

Die EU basiert auf Werten und Prinzipien, die im Christentum vor- und mitgeprägt wurden: Als christliche Kirchen fordern und engagieren wir uns für eine EU, die sich zur unveräußerlichen, gleichen Würde aller Menschen bekennt. Dem Schutz dieser Würde dienen der Einsatz für Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Mit Entschiedenheit treten wir jeder Form von Extremismus entgegen. Insbesondere widersprechen wir vehement dem Rechtsextremismus und völkischem Nationalismus sowie dem Antisemitismus. Ökumenisch setzen wir uns auf der Basis des christlichen Menschenbildes für den gesellschaftlichen und europäischen Zusammenhalt ein.“

"Frieden kann ein falscher sein, wenn er der eines tyrannischen Diktats ist. Für Freiheit muss man auch kämpfen wollen, aber wahre Freiheit ist eine in Frieden." Vizekanzler Robert Habeck

Wie kann es weitergehen? Was braucht Europa, um weiter zu bestehen und sich weiter zu entwickeln? Dazu betonte Vizekanzler Robert Habeck in seiner beeindruckenden Rede anlässlich der Karlspreisverleihung in Aachen: „Ein Jahr, nachdem Wolodymyr Selenskyj für das ukrainische Volk den Karlspreis erhalten hat, wenige Wochen, nachdem der Karlspreisträger von 2018, Emmanuel Macron, in der Sorbonne die Souveränität Europas beschworen, aber auch von einem Scheideweg gesprochen hat, an dem Europa steht. Die Frage an diesem Scheideweg lautet: Was eigentlich ist das Ziel der europäischen Einigung? Worauf arbeitet Europa eigentlich hin? Gibt es eine Finalität der Entwicklung? – Zumindest im Sinne Immanuel Kants als regulative Idee?

Das, meine ich, ist die große Leerstelle des heutigen politischen Europadiskurses, dass er sich nicht mehr traut, der Entwicklung ein Ziel zu geben. Dieses Ziel ist Frieden in Freiheit auf dem europäischen Kontinent. ‚Frieden in Freiheit‘ heißt auch hier, dass es eine begriffliche Beziehung, eine Spannung gibt. Frieden kann ein falscher sein, wenn er der eines tyrannischen Diktats ist. Für Freiheit muss man auch kämpfen wollen, aber wahre Freiheit ist eine in Frieden.

Europa darf dafür nicht stehen bleiben, wo es ist. Es hat bewiesen, dass es die Technik der Regelgebung und die Kontrolle der Regeleinhaltung beherrscht. Aber wir laufen Gefahr, uns in diesen Regeln zu verstricken. Europa schaut zu sehr nach innen. Die Überwachung des Binnenmarkts, die Kontrolle der Kohäsionsmittel – wichtig und gut. Aber bei Weitem nicht ausreichend. Im gewissen Sinn spricht daraus sogar eine Hybris. Die überkommene Vorstellung, dass Europa so mächtig ist, dass es sich vor allem um sich selbst kümmern kann. So ist es längst nicht mehr.

Wollen wir in einem umkämpften geopolitischen Umfeld bestehen, brauchen wir eine europäische außenpolitische und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit – Europa muss sich schützen und verteidigen können –, eine gemeinsame europäische Finanzpolitik, eine Reform der europäischen Institutionen, um die Erweiterung der Union um die östlichen Nachbarn vorzubereiten. Dass sie zu einem Europa in Freiheit und Frieden gehören wollen, dafür kämpfen ihre Menschen mutig, setzen ihre Körper und Leben ein, in der Ukraine, in Belarus, jetzt gerade in Georgien. Und es gibt Regierungen und Regierungschefs, die ihre Person mit der europäischen Idee verbinden: in Moldau, in Montenegro, in Mazedonien.

Nicht zuletzt in Albanien. Die Finalität der europäischen Einigung wäre eine ‚Föderale europäische Republik‘. Eine ‚Einheit in Vielfalt‘ in einer aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, Nationen und geschichtlichen Bezügen gebildeten Union. In solch einer föderalen Union muss niemand Angst vor dem Verlust der je eigenen Geschichte und Kultur haben. In dieser Föderalen Republik rühren der institutionelle Wille zur gemeinsamen Verständigung und die demokratischen Tugenden ihrer Bürgerinnen und Bürger aus der wechselseitigen Anerkennung als Freie – und damit immer als Unterschiedliche.“

Geschichte der Europäischen Union

Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde 1951 das Fundament gelegt, auf dem die Europäische Union, wie wir sie heute kennen, gebaut wurde. Damit sich die Schrecken des Zweiten Weltkrieges nicht mehr wiederholen können, stellten die Gründungsmitglieder Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande ihre für die Rüstungsindustrie wichtige Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Verwaltung.

1958 traten die „Römischen Verträge“ in Kraft, mit denen die EGKS-Mitglieder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft gründeten.
1993 wurde durch den Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet. Damit wurde die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den Europäischen Gesellschaften durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ergänzt.

Die größte Erweiterung der Europäischen Union fand mit der sogenannten Osterweiterung 2004 statt. Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern wurden Mitglieder. 2007 traten auch Bulgarien und Rumänien bei, 2013 Kroatien. Insgesamt hat die EU 27 Mitglieder.