„Weihnachten ist doch das Fest des Friedens“, so sagte mir ein Freund. Ja, mit Weihnachten verbinden wir den Wunsch nach Frieden. Aber was ist eigentlich der Friede? Wie können wir diesen Wunsch nach Frieden eigentlich konkret leben, damit wir ihn als Auftrag an uns selbst verstehen? Dazu möchte ich ein paar mögliche Wege aufzeigen.
Beginnen möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung.
„Ihr könnt heute über alles sprechen, aber bitte nicht über Politik.“ Das pflegte unsere Mutter meinen Geschwistern und mir ans Herz zu legen, bevor die Verwandten zu Weihnachten und zu Familienfeiern zu Besuch kamen. Da einige meiner Onkel durchweg unterschiedliche Positionen zu politischen wie gesellschaftlichen Fragen vertraten und meine Geschwister und ich deren Standpunkte aus jugendlicher Sicht gerne konterten, konnte es dann auch mal zu lebendigen Diskussionen kommen. Während wir an solchen Diskussionen unsere Freude hatten, deutete meine Mutter solches Streiten als Unfriede. Einerseits verstehe ich meine Mutter: Sie hatte sich so viel Mühe gemacht, uns ein schönes Fest zu bereiten, lecker gekocht und so fort. Andererseits: So sehr ich meine Mutter mag und schätze, bedeutet Streiten wirklich immer Unfriede? Ist es nicht besser, wenn die unterschiedlichen Positionen freigelegt werden und sich am Gegenlesen durch den anderen profilieren, schärfen, präzisieren? Wann ist mehr Friede: wenn die Gegensätze zugedeckt werden oder wenn sie offen zutage treten? Darauf gibt es sicher keine eindeutige Antwort. Wenn der eine dem anderen das Wort abschneidet oder ihn beschimpft, dann entsteht tatsächlich Disharmonie. Solange wir einander mit Wertschätzung und Respekt begegnen, können wir uns vieles sagen. Auch das kritische: Der Ton macht die Musik. Meine Erfahrung: Friede will ständig neu erarbeitet, manchmal auch erstritten werden. Das gilt für den Frieden in der Familie wie in Partnerschaften, in der Gesellschaft ebenso wie im Verhältnis von Staaten. Ich habe mich immer gefragt und diese Frage hat mir noch niemand beantwortet: Was bedeutet Friede denn eigentlich positiv? Einigkeit herrscht allgemein wohl darüber, dass wir mit Friede die Abwesenheit von Streit, Gewalt und Krieg verbinden. Aber bedeutet das schon Frieden?
Zum (besseren) Verständnis, worin ein tragfähiger Friede bestehen könnte, haben mir die Erfahrungen eines Mannes geholfen, der mit dem Fahrrad weite Teile der Welt bereist hat. In einem Interview äußerte er auf die Frage, ob die Menschen ihm friedlich oder unfriedlich begegnet seien, er habe drei unterschiedliche Stufen von Frieden erfahren:
Die erste Stufe besteht für ihn in der Erfahrung, nicht ausgeraubt worden zu sein. Darin, dass man ihm nicht das Wasser weggenommen hat; dass man ihn – er durchreiste zum Teil auch gefährliche Gebiete – nicht getötet hat. Dies habe er als ein Nebeneinander, nicht als ein Miteinander erfahren. Nach dem Motto: Man lässt sich in Ruhe und kommt dem anderen nicht ins Gehege. Meiner Meinung nach sollte man diesen Zustand nicht zu schnell als gering einschätzen: Wäre es zum Beispiel nicht schon ein Fortschritt, wenn im Nahen Osten Israel und die Palästinenser ein solches Nebeneinander ohne Gewalt leben könnten?
Als weitergehender hat er solche Situationen erfahren, in denen Menschen ihm Wasser gegeben oder den Weg gezeigt haben. Auf dieser zweiten Stufe öffneten die anderen sich ihm, wurden aktiv und taten etwas zu seiner Unterstützung. Solche Situationen hat er nicht mehr nur als ein Nebeneinander, sondern als ein Miteinander erfahren: Die Situation des anderen wird wahrgenommen, auch dessen Bedürftigkeit. Man hilft dem anderen, damit dieser besser zurechtkommt.
Als noch weitergehender, als intensivste Form des Miteinanders hat er folgende Situationen erlebt: Wenn Menschen ihn zum Essen eingeladen haben oder wenn er bei ihnen übernachten durfte. Auf dieser dritten Stufe friedlichen Miteinanders haben sich Menschen ihm geöffnet. Da sind sie in Teilen eine Wegstrecke mit ihm gegangen, haben Gastfreundschaft gewährt. Solche Erfahrungen, in denen Menschen ihm Raum gewährt und Zeit mit ihm geteilt haben, haben bei dem Weltreisenden den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen.
Für mich hat Jesus Christus solches Raumgewähren vorbildlich vorgelebt. Drei Grundhaltungen seinen genannt: Zuhören: Als der blinde Bartimäus sich rufend am Wegesrand an Jesus wandte, blieb Jesus mitten in einer Alltagsszene stehen und hörte ihm zunächst einmal zu. Nicht nur als Priester erfahre ich, wie friedensstiftend es ist, einander zuzuhören. Wer zuhört, lässt den anderen kommen, gibt ihm Raum. Und wo man Raum erfährt, kann man durchatmen, da kann man leben. Einander annehmen: In seiner unbedingten Bereitschaft zur Vergebung hat Jesus Menschen angenommen, so wie sie sind. Nicht nur im Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt sich, welch befreiende Wirkung dies haben kann. Da lebte ein Mensch plötzlich wieder auf… Wertschätzung: Jesus hat jedem Menschen eine ungemeine Wertschätzung entgegengebracht. Auch da, wo er – wie zum Beispiel mit den Pharisäern – mit ihnen gestritten hat: Auf solchem Nährboden konnte und kann friedliches Miteinander wachsen.
Mit dieser wunderbaren Zusage des Engels beziehungsweise Gottes an uns endet die Weihnachtsbotschaft nach Lukas. Gerade zu Weihnachten wünschen wir uns solchen Frieden. Ein lieber Mensch schrieb mir mit Blick auf den Heiligen Abend: „Ich genieße speziell den Heiligen Abend so sehr. Ruhe, mit Menschen zu Hause zusammen sein; gerne nochmal abends durch den Ort gehen, um diesen Frieden einzuatmen und zu spüren. Dabei wohl wissend, dass parallel viele Kriege toben, Folter stattfindet, viele Menschen leiden… Alles fällt für ein paar Stunden von mir ab, und was ich so besonders schön finde – in der ganzen Welt versuchen Menschen, eine weihnachtliche Atmosphäre zu schaffen.“ Es wäre schön, wenn ich selbst und jeder von uns dazu beitrage und beiträgt, solche Schritte im Alltag unseres Lebens zu gehen.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich in diesem Sinne ein gesegnetes und friedfertiges Weihnachtsfest.
Der Autor ist Priester des Bistums Aachen, Schulseelsorger in Viersen und wird am 2. Februar 2020 als residierender Domkapitular am Hohen Dom zu Aachen eingeführt.