„Kirchen haben eine besondere Atmosphäre“, sagt sie. Der Lärm bleibt draußen und mit ihm auch die vielen kleinen Kämpfe mit Vorurteilen, menschenfeindlichen Vorschriften und starren Haltungen. Täglich trägt Simone Baisch für Flüchtlinge diese Kämpfe aus. So mancher Kampf führt zum Erfolg, aber es gibt auch jene, die sie nicht gewinnen kann. Dann hadere sie in der Kirche auch mal mit Gott, sagt sie. Trotzdem versucht sie alles, ihren Schützlingen den Weg in ihr neues Leben zu erleichtern.
Tagelang lagen die Leichen in den Straßen der Stadt. Ihre Körper von der Sonne aufgedunsen und schwarz. Der 23-jährige Syrer ging täglich an ihnen vorbei, sah, wie sie sich veränderten. Seine Mutter wollte, dass ihre Kinder sich ein neues Leben in einem sicheren Land aufbauen können. Deshalb hat sie so viel Geld wie möglich zusammengetragen, um ihm und seinem Bruder die Flucht zu ermöglichen. Er zahlte Schleusern viel Geld für die Überfahrt in einem Schlauchboot, das auf 30 Plätze ausgelegt war. Tatsächlich wurden 75 Frauen, Männer und Kinder dort eingepfercht. Wer sich beschwerte, spürte eine Pistole am Kopf. Auch seine Schwester wagte mit ihren vier kleinen Kindern die gefährliche Überfahrt über das Meer. Weil es beim ersten Mal nicht klappte, wagte sie einen zweiten Versuch. Wieder musste sie die Schleuser bezahlen. Die Fahrt war gefährlich, das Boot lag zu tief im Wasser. Unermüdlich haben die Flüchtlinge eindringendes Wasser herausgeschippt, ständig drohte das Boot zu kentern. Das hat eines ihrer Kinder so stark traumatisiert, dass es beim Anblick eines Meeres zu schreien anfängt.
„Ich wollte nie ein arroganter Mensch sein“, sagt Simone Baisch. „Aber als ich in den USA mit armen Menschen und Obdachlosen gearbeitet habe, lernte ich, dass ich es doch bin.“ Die Erkenntnis kam der promovierten Diplom-Psychologin bei ihrer Arbeit in der Psychiatrie. Dort erzählte ihr eine Frau, dass sie am Meer wohne. „Ich habe direkt gesagt, wie schön das doch ist, direkt aufs Meer zu schauen, auf der Terrasse zu sitzen und einen Kaffee zu trinken“, erinnert sich Baisch. „Darauf sagte mir die Frau, dass sie mit ihrem Kind in einem Zelt wohne. Sie hatte immer Angst vor Übergriffen.“ Dass die Bildern in den Köpfen oft von Klischees bestimmt werden, erfährt Baisch auch im Alltag. Zum Beispiel wenn sie Stammtischparolen hört, die Flüchtlinge wollten nur Sozialleistungen kassieren. Oder dass der Lebensstandard hier viel höher sei, als sie es in ihrer Heimat gewohnt seien. Solchen Gedanken hält sie entgegen, dass auch Syrer, Afghanen und Flüchtlinge anderer Nationalitäten ein normales Leben hatten, das von Krieg und Terror zerstört wurde. Sie gingen zur Arbeit, schickten ihre Kinder in die Schule, trafen Freunde, lebten in ihren Wohnungen und Häusern.
Seit zwei Jahren lebt Simone Baisch wieder in Deutschland. „Ich möchte nur noch Sachen machen, die sinnvoll sind“, sagt sie. Beruflich arbeitet sie einen Tag in der Woche mit Strafgefangenen in der JVA Willich und die restliche Woche im Förderungszentrum für Flüchtlinge beim TÜV Nord. Sie betreut Frauen und Männer in berufsvorbereitenden Maßnahmen. Viele von ihnen unterstützt sie auch in ihrer Freizeit. Hilft ihnen, Schreiben von Ämtern zu verstehen, sucht Wohnungen, Praktikumsplätze und Schulen. Auch wenn die offizielle Maßnahme endet, bleibt zu einigen Teilnehmern der Kontakt bestehen. „Ich kann ja nicht einfach aufhören, ihnen zu helfen“, findet die Psychologin. Den Menschen zuzuhören und ihre Geschichten auszuhalten ist die Basis für ihre Hilfe. „Ich interessiere mich dafür, was sie in ihrer Heimat gemacht haben, ob dort noch Familie lebt, wie ihr Alltag war, wie sie geflüchtet sind“, sagt sie. „Viele haben schlimme Sachen erlebt und wenn ich mich nicht dafür interessiere, kann ich sie nicht da abholen, wo sie stehen.“ Nicht alle reden über ihre Erlebnisse. Dazu braucht es Vertrauen und das stellt sich erst nach einiger Zeit ein. „Wenn man einen guten Kontakt hat, dann fangen sie auch an, von sich zu erzählen“, ist die Erfahrung der Psychologin.
Es sollte eine ganz normale Wanderung auf den Süchtelner Höhen werden. Ein Tag in der Natur für die beiden Brüder, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber dann brach der 18-Jährige in Tränen aus. Sein Bruder übersetzte den Bericht von der Flucht über die Balkanroute. Aus Angst, verhaftet zu werden, seien sie nur nachts gegangen. Die Nächte waren stockdunkel, sie konnten nicht mal sehen, wer neben ihnen in der Gruppe ging. Um sich nicht zu verlieren, hielten sich die flüchtenden Menschen an den Händen. Zwölf Kilometer legten sie so im unwegsamen Gelände pro Nacht zurück – ohne Pause. Der 18-Jährige erlebte, dass es einige nicht schafften und zurückgelassen werden mussten. Um Geld für die Weiterreise zu verdienen, arbeitete er in der Türkei illegal in einer Textilfabrik im Akkord – täglich 14 Stunden. Nach drei Monaten hatte er das Geld für den Rest seiner Reise zusammen.
In Deutschland erhoffen sich die Flüchtlinge ein neues Leben in Frieden. Sie möchten sich hier eine Existenz aufbauen, ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen und ihnen eine Perspektive für ihre Zukunft geben. „Auf der Flucht haben sie ständig Angst, irgendwo aufgegriffen und registriert zu werden“, sagt Baisch. Nach dem Dublin-Abkommen müssten sie dann in das sichere Drittland zurück. Aber auch wenn sie es geschafft haben, stehen die Menschen unter enormen Druck. Oft sind Familienväter vorgegangen, in der Absicht, ihre Familien nachzuholen. Wenn sie in Deutschland sind, ist ein Familiennachzug kaum noch möglich. „Sie dürfen nicht zurück in ihr Land ausreisen, können ihre Familien aber auch nicht holen“, erlebt Baisch immer wieder. Ihre Hilflosigkeit in dieser ausweglosen Situation setzt die Männer unter Stress. Manche bekommen Depressionen, andere werden aggressiv.
Seine Frau war hochschwanger, für sie und die vier kleinen Kinder wäre die Reise über das Meer viel zu gefährlich gewesen. Deshalb schickte der Familienvater sie nach Jordanien. Er würde vorausgehen und seine Familie nach Deutschland nachholen. So war sein Plan. In dem Land, das für ihn ein Versprechen auf Sicherheit und Frieden war, kam die Ernüchterung. Bis zu seiner Anerkennung dauerte es Monate, in denen er nichts tun konnte. Der Familiennachzug wurde ihm von den Behörden verwehrt. Das jüngste Kind wurde weit weg vom Vater geboren, die Monate vergingen. Mit gut einem Jahr wurde das Kind krank und fiel sogar in ein Koma. Für den Vater in Deutschland war klar: Wenn er seine Familie nicht holen kann, dann muss er wieder zu ihr. Doch die deutschen Behörden verweigerten ihm die Ausreise.
Die Hilflosigkeit in seiner verzweifelten Situation brachte die Wut hervor, die sich gegenüber Sachbearbeitern entlud. „Der Familienvater wurde mir vom Jobcenter als aggressiv und anspruchsvoll angekündigt“, erinnert sich Simone Baisch. Sie unterstützte ihn, aktivierte ihr Netzwerk und half so, doch noch Visa für die Familie zu bekommen. Als die deutsche Botschaft in Jordanien die Dokumente ausstellte, währte die Freude nur kurz: Der Vater sollte die Tickets selbst bezahlen. Sämtliche Anträge auf Unterstützung bei Ämtern und sozialen Organisationen wurden abgelehnt. „Also haben wir wieder rumgefragt, wer helfen kann“, berichtet sie. Als sie das Geld nicht zusammen bekam, war es schwer, ihm das zu sagen. „Diese Enttäuschung in seinem Gesicht“, sagt sie. „Ich hatte selbst Tränen in den Augen stehen, weil mir das so leid tat.“
Seit Dezember ist die Familie nun doch vereint, der Familienvater hat sich dafür verschuldet. Das Paar wohnt mit seinen fünf Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Als sich wegen eines undichten Dachs in der Wohnung Schimmel bildete, wollte die Vermietergesellschaft nichts tun. Erst als Baisch das städtische Gesundheitsamt einschaltete, bewegte sich etwas. Bei einer Besichtigung stellten die städtischen Mitarbeiter fest, dass eine akute Gesundheitsgefährdung vorlag. Sie forderten den Vermieter auf, eine andere Wohnung zur Verfügung zu stellen. Die Vermietergesellschaft teilte der Familie im gleichen Haus wieder eine Zwei-Zimmer-Wohnung zu. Und kündigte wegen Überbelegung.
Es sind nicht nur die großen Probleme, die den Alltg schwer machen. Manchmal reicht es schon, wenn Simone Baisch einfach erklärt, dass und wie man in Deutschland den Müll trennt. „Solche Dinge bringen oft Probleme mit Nachbarn. Und man kann sie dann so einfach ausräumen“, ist sie überzeugt. Sie kann da aus der eigenen Erfahrung schöpfen: „Als ich aus den USA wiederkam, habe ich die Sache mit Abfallkalender und den verschiedenen Mülltonnen erst auch nicht verstanden.“ Mit jeder neuen Erkenntnis öffnet sich für ihre Schützlinge die Welt in Deutschland ein wenig mehr. Das Kreuz, das sie tragen müssen, wird etwas leichter. Das selbstständige Ablesen eines Zählerstands ist für sie ein weiterer Schritt in ein selbstbestimmtes Leben. „Ich lasse die Leute gerne los, damit sie sich abnabeln können“, sagt Baisch. Es gehe ihr nicht nur darum, ihnen das deutsche Leben zu erklären. „Ich verschaffe ihnen ein immer größeres Netz, so dass sie alleine laufen können“, erklärt die Psychologin. Auch sie selbst hat etwas davon: Ihre Hilfe ist ihr Lebenswerk, aus dem neue Freundschaften entstehen.