Freiheit, Frieden und Menschenrechte

Jean-Claude Juncker und Martin Schulz glauben an die Kraft gemeinsamer Werte

Martin Schulz (l.) und Jean-Claude Juncker sind Verteidiger der  europäischen Werte. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Martin Schulz (l.) und Jean-Claude Juncker sind Verteidiger der europäischen Werte.
Datum:
27. Sept. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 39/2023 | Stephan Johnen

„Europäische Werte – Schönfärberei oder Realität?“ Dieser Frage gingen in der Aachener Marienkirche die beiden Karlspreisträger Jean-Claude Juncker und Martin Schulz auf Einladung der Europäischen Stiftung Aachener Dom auf den Grund.  

Im Interview mit unserer Redaktion hoben der frühere Präsident der Europäischen Kommission und der frühere EU-Parlamentspräsident vorab hervor, wie wichtig ein geschlossenes europäisches Auftreten und eine Bereitschaft zur Verteidigung der europäischen Werte gegen innen und außen sind.

„Wir müssen mehr um die Herzen und Köpfe der Menschen werben, als wir das heute tun“, forderte Jean-Claude Juncker Demokraten auf, aktiv für Freiheit, Frieden und Menschenrechte einzutreten, die in einer idealen Welt eine Selbstverständlichkeit sein sollten, es aber in vielen Regionen nicht sind.

Europa wird schnell auf Rechtsvorschriften und eine vermeintliche Regelungswut reduziert – was sind die grundlegenden Werte Europas?

Juncker: Menschenrechte, Freiheit und Frieden. Diese Grundwerte werden von Millionen Europäern gelebt. Wir könnten sie besser leben, wenn sich alle handelnden Personen Europas öffentlich diesen Werten verpflichten würden.

Schulz: Respekt, Toleranz und Kultur. Ich respektiere den anderen Menschen, ich toleriere die andere Kultur und Meinung. Das ist die Grundlage des Zusammenlebens.
Die europäischen Werte sind dann nicht Schönfärberei, wenn wir sie zur Realität machen.  Sie sind verloren, wenn sich die Menschen nicht mehr für diese Werte engagieren. Die entscheidende Frage ist, ob wir es noch ausreichend hinbekommen, genügend Menschen zu bekommen und sie zur Verteidigung dieser Werte zu mobilisieren, wenn sie von innen und außen angegriffen werden.
Ich denke, dass diese Werte es wert sind, sie zu verteidigen.

Hat die Idee Europa noch eine Zukunft angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine?

Juncker: Wir dachten immer, Frieden ist selbstverständlich. Das ist er aber nicht, er ist bedroht. Die Welt ist komplizierter geworden.
Das können wir an der Tatsache festmachen, dass wir uns von vielen Träumen und Hoffnungen verabschieden mussten, sei es im Verhältnis Europas zu China oder zu Russland.
Jetzt kommt es darauf an, sich auf die europäischen Grundwerte zu beziehen und zu berufen, auch in der Außenpolitik. Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, dem Rest der Welt Lektionen zu erteilen, sondern müssen uns in Respekt begegnen.
Aber wir müssen beharrlich auftreten, wenn es um die Verletzung elementarer Grundwerte geht. 

Respekt, Toleranz und Würde sind in den europäischen Verträgen festgeschrieben.

Wird die Europäische Union überhaupt als globaler Player ernstgenommen?

Schulz: Ökonomisch in jedem Fall. Der europäische Markt ist Ziel der Aktivitäten weltweit, alle wollen mit ihren Waren und Dienstleistungen auf den stärksten Binnenmarkt der Welt. Wir können ihn als Instrument einsetzen, damit potenzielle Handelspartner auch in bestimmten politischen Bereichen kooperieren, Werte und Prinzipien akzeptieren.
Dann wird Europa sehr ernst genommen. Diese Argumentationslinie haben wir auch Herrn Trump vorgetragen, ein Wirtschaftskrieg mit den USA ist nicht ausgebrochen. 

Juncker: Europa wird generell als große Kraft empfunden, wenn wir einheitlich auftreten. Für Außenhandel ist aber nicht die Kommission zuständig.
Die Großen der Welt, die Russen, Chinesen und Amerikaner, mögen es überhaupt nicht, wenn die EU geschlossen auftritt. Umso wichtiger ist es, mit geschlossener Front, im richtigen Moment „Nein!“ zu sagen.
Freiheit besteht auch darin, Nein sagen zu können. 

Reduzieren wir die europäische Werte also auf die Ökonomie?

Juncker: Wenn wir unsere Prinzipien und europäischen Werte durchsetzen wollen, geht das nicht mit guten Worten. Es gibt Regierungen, die respektieren unsere Werte nicht. Dann müssen wir klar sagen: Ihr könnt nicht erwarten, dass Ihr mit uns freien Handel treibt, ohne dass Ihr unsere Prinzipien akzeptiert.

Schulz: Unsere Grundwerte sind nicht veräußerlich. Alle anderen europäischen Nationen haben den Artikel 1 unserer Grundrechte als Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union übernommen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Respekt, Toleranz und Würde sind in den europäischen Verträgen festgeschrieben.
Es ist nicht so, dass alle Menschen auf diesem Planeten diese Meinung teilen. Aber wir müssen eine Bereitschaft zur Verteidigung dieser Werte haben. 

Eine Haltung, die offenbar selbst einige EU-Mitglieder wie Polen und Ungarn nicht unbedingt teilen.

Schulz: Die Glaubwürdigkeit der EU steht dann auf dem Spiel, wenn die von der EU gesetzten Maßstäbe von einem Teil der Mitglieder nicht eingehalten  werden. Hier müssen wir die Grenzen  aufzeigen, wenn die Gewaltenteilung ausgehebelt wird, die Rechte auf Selbstverwirklichung und Freizügigkeit eingeschränkt und Wettbewerbsbedingungen verzerrt werden.
Die notwendigen Verfahren sind bereits eingeleitet worden. Die EU ist immer nur so stark, wie ihre Mitgliedsstaaten sie stark machen. Bei Orban habe ich die Hoffnung aufgegeben, er lässt sich notfalls von anderen Kräften rauskaufen.
Was Polen angeht, bin ich sehr optimistisch. Wir müssen uns generell befleißigen, einen Unterschied zwischen der Regierung eines Landes und dem Volk zu machen.
In Polen hat das Wahlsystem die Regierung begünstigt, die Mehrheit des Volkes trägt diesen Umbau des Staates nicht mit.
Ähnlich verfährt die israelische Regierung. Ich würde mir wünschen, wir hätten die Kraft der Pro-Europäer, die jedes Wochenende für die Demokratie auf die Straße gehen, wie es in Israel geschieht. 

Juncker: Trotz einiger Anti-Europa-Diskurse erfährt die Weiterführung des europäischen Integrationswerkes allgemein große Zustimmung.
Ich glaube an die Kraft der Argumente, die widerlegen, was aus der rechtsextremen Ecke auf uns niederprasselt. 

"Solange ich atmen kann, setze ich mich dafür ein, dass Europa ein offenes Haus bleibt.", sagt Jean-Claude Juncker 

Großes Interesse: 400 Zuhörerinnen und Zuhörer waren in die Marienkirche gekommen. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Großes Interesse: 400 Zuhörerinnen und Zuhörer waren in die Marienkirche gekommen.

Wie sollen Demokraten mit Populismus und immer lauter werdenden rechtsextremistischen Stimmen umgehen?

Juncker: Ich beobachte ein Erstarken der rechtsradikalen Kräfte quer durch Europa. Ein Teil der Bevölkerung in Europa wendet sich hin zu Menschen mit einfachen Ideen.
Es besorgt mich, dass die Dinge aus dem Ruder laufen können. Innerhalb der klassischen Parteien reden viele den Populisten nach dem Mund.
Populismus bekämpft man aber nicht durch Nachbete, sondern indem man sich den Populisten in den Weg stellt.
Während die Verteidiger der europäischen Demokratie aber mitunter wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen wirken, treten die Gegner wie eine geschlossene Kampfformation auf.
Ich neige aber nicht zu Pessimismus: Der überaus größte Teil der Bevölkerung setzt sich für die Demokratie ein. Sie ist kein Auslaufmodell und wird auch in den Regionen Europas praktiziert.
Solange ich atmen kann, setze ich mich dafür ein, dass Europa ein offenes Haus bleibt. 

Schulz: Was wir erleben, ist ein Paradox. In einer immer globalisierteren Welt, in der alles miteinander zusammenhängt und multiglobale Lösungen verlangt werden.
Als Lösung wird jedoch das Gegenteil von dem propagiert, was wir brauchen.
Die Probleme des 21. Jahrhunderts sollen mit den nationalistischen Ideen des 19. Jahrhunderts gelöst werden. Wir brauchen grenzüberschreitenden Respekt und Kooperation.
Ohne die EU würde der Nationalstaat, der global an seine Grenzen stößt, völlig untergehen.