„Es ist höchste Zeit, den Kurs zu ändern“

Simmeraths Bürgermeister Bernd Goffart spricht darüber, wie Kommunen die Optionen zur Unterbringung von Geflüchteten ausgehen. Und warum ein „weiter so“ auch den Schutzsuchenden keine echte Perspektive bietet.

Bernd-Goffart (c) Stephan Johnen
Bernd-Goffart
Datum:
6. Nov. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 45/2024 | Stephan Johnen

Bernd Goffart war während der Jahre 2015/16 Leiter des „Sonderteams Geflüchtete“ in der Stadt Aachen. Viele der Erfahrungen aus dieser Zeit haben ihm geholfen, als Bürgermeister der Gemeinde Simmerath lange Zeit „vor der Lage“ zu bleiben. „Wir schaffen das“ – dieser Satz von Angela Merkel sei 2015 richtig gewesen. „Damals wurde das System aber nicht insgesamt überfordert. Das ist heute anders“, sagt er im Interview mit der KirchenZeitung. Er fordert ein Moratorium und ein Umdenken in der Asylpolitik.

Herr Goffart, Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin 2015 mit Blick auf die steigenden Flüchtlingszahlen drei Worte gesagt: „Wir schaffen das!“ Eine Fehleinschätzung?

Goffart: Das muss man ganz klar differenziert betrachten. Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 hatte Angela Merkel recht. Wenn ich ein Rettungsboot mit 1000 Plätzen besitze und auf der anderen Seite 500 Menschen in Not sind, kann und muss ich das sagen: Wir schaffen das. Wir haben vielerorts zwar erst einmal die Turnhallen belegt, um die Menschen aufzunehmen und kurzfristig Unterkünfte zu schaffen und eine Struktur aufzubauen, aber das System wurde nicht insgesamt überfordert. Das ist aktuell anders. 

 

Was hat sich verändert? Schaffen wir es heute nicht mehr?

Goffart: Ab dem Jahr 2020 zeichnete sich ab, dass der Zustrom langsam zu viel wird, dass die Menge und die Schnelligkeit, in der Menschen zu uns kommen, zu hoch sind, um dem noch gerecht zu werden. Die Systeme wurden überlastet, es gibt kaum noch Ressourcen. Nicht nur bei uns in der Gemeinde Simmerath zeichnete sich ab, dass wir sozusagen keinen originären normalen Wohnraum mehr haben. Die Geflüchteten treten in Konkurrenz zu Menschen mit geringerem Einkommen, die hier eine Wohnung suchen, der Wohnungsmarkt wurde immer enger. Gleichzeitig hören wir aus den Schulen, dass zu viele Kinder gleichzeitig der deutschen Sprache nicht mächtig sind, dass es immer schwerer wird zu unterrichten, alle zu fördern. All diese Signale hätte man sehen müssen, auch wenn man sie aus ideologischen Gründen vielleicht nicht sehen wollte. Jetzt ist es höchste Zeit, den Kurs zu ändern. 

 

Korrigieren Sie mich, aber hat das Asylrecht in Deutschland nicht als Grundrecht Verfassungsrang?

Goffart: Jeder Mensch hat Recht auf Asyl – und das ist auch richtig so! Sie werden niemals von mir hören, dass wir kein Asyl mehr gewähren sollen. Darum geht es auch gar nicht. Aber wir dürfen in Deutschland für Asylbewerber nicht finanziell attraktiver sein als andere Länder in Europa und wir brauchen schnellere Prüfverfahren.

Nicht zuletzt aufgrund Bernd Goffarts (l.) Erfahrungen aus Aachen hat die Gemeinde Sozialbetreuer wie Quttaiba Diab eingestellt. (c) Stephan Johnen
Nicht zuletzt aufgrund Bernd Goffarts (l.) Erfahrungen aus Aachen hat die Gemeinde Sozialbetreuer wie Quttaiba Diab eingestellt.

Wie meinen Sie das?

Goffart: Wer in England oder Frankreich Asyl beantragt und dort während der Prüfungsphase lebt, sieht sich mit einem ganz anderen Lebensstandard konfrontiert, den einem der Staat zugesteht. In Frankreich erhalten abgelehnte Asylbewerber faktisch kein Geld mehr, in Dänemark werden die Menschen bis zur Abschiebung mehr oder weniger kaserniert. Bei uns erhalten Asylbewerber Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz. Wird der Antrag abgelehnt, gibt es Bürgergeld und damit faktisch mehr Geld. Etwa ein Drittel der Menschen in unseren gemeindlichen Unterkünften sind abgelehnte Asylbewerber. Es gibt Verfahren, die wurden 2015 beendet und die Menschen leben trotz Ablehnung immer noch hier, verstärken den Druck auf den Wohnungsmarkt. Wir überfordern uns gerade selbst. Ich möchte keine Zäune errichten oder die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken, aber wir brauchen ein Moratorium, wir dürfen nicht attraktiver sein als andere Länder in Europa. Dann würden sich die asylsuchenden Menschen auch besser in der Europäischen Union verteilen. 

Bedarf es dann nicht einer gesamteuropäischen Lösung?

Goffart: Wenn wir darauf warten, dass wir eine europaweite Lösung bekommen, werden wir keine Lösung finden. Es wird so weiterlaufen wie bisher. Es werden dann weiter Dinge wie Grenzkontrollen gemacht, die vielleicht populär sind und auch nicht ganz sinnlos, weil einige Kriminelle ins Netz gehen. Aber es ist nicht der große Wurf, es ist keine Lösung. Wir können jedoch alleine entscheiden, dass wir nicht diejenigen sind, die die höchsten Standards setzen. Ziel muss es sein, unattraktiver zu werden. Dabei spreche ich ausdrücklich von Asylbewerbern, nicht von den Fachkräften, die aus dem Ausland zu uns kommen. Selbstverständlich brauchen wir Fachkräfte – in fast allen Bereichen. Wir brauchen Einwanderung.   

 

Und was ist mit den Menschen, die auf Schutz angewiesen sind?

Goffart: Denen müssen wir Schutz gewähren! Dafür brauchen wir aber schnellere Asylverfahren, einhergehend mit konsequenten Abschiebungen bei Nicht-Anerkennung. Die Menschen, die Schutz brauchen, müssen sich viel schneller sicher sein, dass sie hier bleiben können, dass sie sich integrieren können, dass es sich lohnt, sich zu integrieren. Wenn sie jahrelang im Zweifel sind, ob sie bleiben können oder nicht, passiert auch etwas in den Menschen. Es verändert einen Menschen, permanent Sorge zu haben, in Ungewissheit zu leben. Früher hat ein Asylverfahren etwa drei Monate gedauert, während dieser Zeit durften die Menschen nicht arbeiten. Heute dauern die Verfahren zum Teil Jahre, die Menschen hängen rum, versauern. Dann kommt es vor, dass irgendwann Menschen abgeschoben werden, die sich aber bereits integriert haben. Was wir brauchen sind schnelle Verfahren – und nach einer Anerkennung eine möglichst schnelle Integration, Sprachkurse, Zugang zum Arbeitsmarkt, eine Perspektive für die Menschen, die bleiben können. Während dieser im Idealfall möglichst geringen Wartezeit brauchen wir Kümmerer, die die Menschen abholen und sich um sie kümmern. So wie wir es mit unseren Sozialbetreuern machen. 

 

Was sind ihre Lehren aus den Jahren 2015/16, als sie selbst in Aachen als Leiter des „Sonderteams Geflüchtete“ waren und zum Teil Pionierarbeit geleistet haben?

Goffart: Auf keinen Fall wird es mit mir noch einmal Belegungen von Turnhallen geben. Wir bauen in Simmerath aktuell nicht ohne Grund weitere Container für bis zu 120 Menschen. Wir haben sonst keine Optionen mehr. Turnhallen zu sperren, ist für mich aus mehreren Gründen undenkbar. Die Menschen haben faktisch keine Privatsphäre, 100 Menschen leben auf lange Zeit in einem riesigen Raum. Es ist auch die teuerste Lösung, ich brauche rund um die Uhr Sicherheitspersonal, Catering. Und die Halle fällt für Sport, schulische und andere Nutzungen auf unbestimmte Zeit aus. Die zweite Lehre ist, dass wir viele Aufgaben der Betreuung und Unterstützung von Geflüchteten mit selber eingestelltem Personal wesentlich kostengünstiger meistern können. Wir sind in Simmerath aufgrund meiner Erfahrung aus Aachen immer noch vor der Lage.

 

Welche Optionen hatten sie – und warum sind die Optionen nun erschöpft?

Goffart: Wir haben als Gemeinde alles angemietet oder gekauft, was uns auf dem Markt zur Verfügung stand, um die Menschen dezentral unterzubringen. Es gibt diesen Wohnraum nicht mehr. Also haben wir das ehemalige Landschulheim genutzt, dort Container aufgestellt. Jetzt wird unsere Einrichtung in Langschoß erweitert. Aber alle Puffer, die wir angelegt haben, wurden immer schneller aufgezehrt. Jeder Flüchtling, der zu uns kommt, ist ein Mensch, der von den Kommunen unterzubringen ist. Jeder abgelehnte Asylbewerber, der weiter bei uns wohnt, verschärft den Druck auf dem Wohnungsmarkt. Als dann noch der Ukraine-Krieg begann, waren viele Menschen zum Glück bereit, auch privat Geflüchtete aufzunehmen. Diese Bereitschaft ist fast auf Null gesunken. Wo sind die Bauprogramme des Bundes oder der Länder für geförderten Wohnungsbau, damit all diese Menschen vernünftig untergebracht werden können? Wir als Kommune können das nicht. Wir haben keine Millionen an Kapital dafür. Es ist aber auch nicht Sinn und Zweck einer Kommune, zu einer Baugesellschaft zu werden. 


Und wenn Sie das Geld für Wohnungsbau bekämen?

Goffart: Mehr Geld oder einfach „nur“ Geld hilft hier nicht. Auf jeden Fall nicht kurzfristig. Es muss auch auf Bundes- und Landesebene Konzepte geben, wie wir die Aufgaben gemeinsam stemmen können, wie wir Wohnraum schaffen, ausreichend Plätze in Schulen und Kitas, woher die pädagogischen Fachkräfte kommen sollen. Wenn wir als Kommune beispielsweise Baugebiete mit Mehrfamilienhäusern planen, darunter auch öffentlich geförderter Wohnraum, müssen wir umfangreiche Konzepte vorlegen. Es wäre schon eine Erleichterung, wenn wir die Planung und Genehmigung in drei Jahren durch hätten. Aber all diese Verfahren sind viel zu langwierig. Genehmigungsverfahren, Umweltgutachten, vertiefte Umweltgutachten... Wir brauchen mehrere Jahre, um das Baugebiet wirklich umzusetzen und im Vorfeld müssen Fragen über Fragen beantwortet werden. 

Die Zahl der Kriegs- und Krisenherde in der Welt nimmt weiter zu. Dieses Bild ist in der syrischen Stadt Daraa aufgenommen worden. (c) Mahmoud Sulaiman/unsplash.com
Die Zahl der Kriegs- und Krisenherde in der Welt nimmt weiter zu. Dieses Bild ist in der syrischen Stadt Daraa aufgenommen worden.

Welche Fragen sind das?

Goffart: Gibt es überhaupt einen Bedarf? Ist es möglich, an diesem Ort zu bauen? Wie steht es um Kanalanschluss, Wärmeversorgung und Parkplatzsituation? Werden die Nebenstraßen nicht zu stark belastet? Wie sieht der Bedarf an Kita- und Schulplätzen aus? Wie die Anbindung an den ÖPNV? Das muss alles beantwortet werden. Über Zuteilungen werden geflüchtete und asylsuchende Menschen von heute auf morgen an die Kommunen abgegeben – und vor Ort müssen wir schauen, wie wir damit umgehen. All die oben genannten Faktoren und Fragen spielen plötzlich keine Rolle mehr, obwohl diese Zuteilungen auch Auswirkungen haben. Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass es oft keinen ausreichenden Wohnraum mehr gibt. Wenn Menschen weiter in Notunterkünften jahrelang ohne Perspektive leben müssen, wird das auf Dauer sozialen Sprengstoff liefern. 

Befürchten Sie, dass es irgendwann einen Kipppunkt in der Akzeptanz gibt?

Goffart: Wenn ich mir die jüngsten Wahlergebnisse anschaue, ist der  Kipppunkt offenbar schon erreicht. 

 

Was tun? Was schlagen Sie vor?

Goffart: Wir brauchen schnell laufende Asylverfahren, während der Prüfphase einen Standard, den sich die Gesellschaft leisten kann und der uns nicht attraktiver macht als andere Länder und grundsätzliche Vereinbarungen mit sicheren Herkunftsländern, um konsequent abzuschieben zu können. Für die Menschen, die bleiben, müssen wir viel schneller eine Perspektive anbieten, sie integrieren. Und wir brauchen gesetzliche Änderungen, das ist ein klarer Auftrag an die Bundesregierung. Wir bekommen als Kommunen zwar Geld, aber es reicht nicht aus.

 

Beim Wohnungsbau wollten Sie das Geld nicht haben ....

Goffart: Es geht um eine faire Verteilung und realistische Kostenerstattung. Beispielsweise entstehen auf kommunaler Ebene immer höhere Kosten über die Jugendämter. Wenn immer mehr Kinder der Sprache nur rudimentär mächtig sind und besonderen Förderbedarf haben, benötigen wir immer mehr Schulbegleiter. Es kommen viele traumatisierte Menschen, vor allem Kinder, die betreut werden müssen. Für galoppierende Kosten im Jugendamtsbereich gibt es keinerlei Unterstützung. Und all dies hat auch Auswirkungen auf die ohnehin schon zum Teil an der Grenze der Belastbarkeit arbeitenden Systeme.

 

Ist es als Bürgermeister einer kleineren Kommune eigentlich einfacher, diese Aufgaben zu bewältigen, als es beispielsweise für Ihre Kolleginnen und Kollegen in Großstädten ist?

Goffart: Als kleinere Kommune habe ich gegenüber einer Großstadt den Vorteil, dass ich Menschen leichter dezentral unterbringen kann und sie nicht so sehr auf sich allein gestellt sind. Auf dem Land funktioniert es meist noch, dass Nachbarn „Guten Tag“ sagen und auch mal helfen, Flüchtlinge zu unterstützen. In Aachen haben wir damals gemerkt, dass es immer schwieriger wurde, solche Ansprechpartner in der Nachbarschaft zu finden, je städtischer es wurde. 

 

Wie steht es generell um die Hilfsbereitschaft?

Goffart: Die Hilfsbereitschaft ist gesunken, aber nach wie vor da. Bei uns bedarf es dafür gar keiner besonderen Organisation. Wenn in der Nebenwohnung jemand einzieht, kommen Nachbarn ins Gespräch. Es ist wesentlich einfacher als in der Stadt, weil nicht alles so anonym ist.

Zur Person

Bernd Goffart (58 Jahre) ist seit 2020 Bürgermeister der Gemeinde Simmerath. Der Diplom-Verwaltungswirt war zuvor als Führungskraft bei der Stadt Aachen tätig, beispielsweise von 2015 bis 2017 als Leiter des Sonderteams Geflüchtete. Vor seiner Wahl zum Bürgermeister baute er als Leiter der Stabsstelle den Bevölkerungsschutz in der Stadt Aachen wieder auf.  
Bernd Goffart ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Kesternich. Kommunalpolitisch ist Goffart bereits seit über 20 Jahren aktiv. Er sitzt seit 2004 im Gemeinderat und war seit 2009 1. stellvertretender Bürgermeister.