Es geht um Menschenbilder

Die Bischöfliche Akademie beschäftigt sich in zwei Reihen ab Mai mit Kolonialismus und Postkolonialismus

Der Tod von George Floyd und die daraus entstandene Bewegung „Black-livesmatter“ haben eine intensivere Auseinandersetzung mit Rassismus und seinen Wurzeln in Gang gesetzt. (c) Foto: pixabay.com
Der Tod von George Floyd und die daraus entstandene Bewegung „Black-livesmatter“ haben eine intensivere Auseinandersetzung mit Rassismus und seinen Wurzeln in Gang gesetzt.
Datum:
27. Apr. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 17/2021 | Andrea Thomas

Im Gespräch erläutern Akademie-Leiterin Christiane Bongartz und Dozentin Laura Büttgen, warum das Thema so aktuell ist, welche Facetten es hat und wie dieses geschichtliche Erbe unsere Welt heute prägt.

Dr. Christiane Bongartz (c) Foto: Nina Grützmacher
Dr. Christiane Bongartz

Was hat Sie als Bischöfliche Akademie bewogen, das Thema aufzugreifen?

Christiane Bongartz  Mir ist für die Bildungsarbeit wichtig, dass wir helfen, aktuelle gesellschaftliche Prozesse zu verstehen und zu hinterfragen. Aber eben auch, die Welt etwas gerechter zu machen, mit einer Vision nach vorne zu gehen und Gesellschaft gestalterisch zu unterstützen. Da ist „Postkolonialismus“ im Moment besonders in der Debatte, in Aachen, in Deutschland und weltweit, unter anderem durch die „Black-lives-matter“-Bewegung. Aber auch, weil es ein Thema ist, das noch wenig besprochen und hinterfragt wurde, wo es aber aus meiner Sicht großen Klärungsbedarf gibt. Es ist noch einmal eine etwas andere Perspektive als nur auf Rassismus oder globale Ausbeutung. Es ist ein eigener Blick auch auf die deutsche Kolonialgeschichte, von der kaum jemand etwas weiß. Zum Beispiel, dass Deutschland die drittgrößte Kolonialmacht war. Damals sind schreckliche Sachen passiert, die Auswirkungen bis heute haben.

Dr. Laura Büttgen (c) Foto: privat
Dr. Laura Büttgen

Wie weit prägt die koloniale Vergangenheit unser Denken und Handeln heute noch?

Laura Büttgen  In der Reihe „Kolonialgespräche“, die wir mit dem Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath anbieten, greifen wir die Auswirkungen auf im Hinblick auf kulturelle, soziale und wirtschaftliche Aspekte, die man auch in den Themen Flucht, Migration, Globalisierung, Nachhaltigkeit und Klimawandel wahrnimmt. Wir nehmen den Entwicklungsbegriff in den Blick und wie er sich gewandelt hat im Lauf der Jahrzehnte. Inwiefern ist die internationale Zusammenarbeit davon geprägt und von dem Rassismus, der letztlich auch heute noch zu finden ist in Form des strukturellen Rassismus? Wir schauen auf Traumata, speziell von Frauen, die über Generationen hinweg bedeutungsvoll sind. Ein weiterer Aspekt ist der Begriff der Sklaverei, bezogen auf die Arbeitswelt. Da knüpft das Nell-Breuning-Haus an, indem es Frauen, Migration und Geschlecht, Wanderarbeit und Menschenhandel in den Blick nimmt. Das sind alles Formen der Ausbeutung, die im Kolonialismus oder heute Postkolonialismus begründet sind. Ich denke, es ist neben dem Aspekt der Sklaverei oder des Menschenhandels, der jetzt vielleicht nicht konkret in unserem Alltag auftaucht, das Thema Rassismus, das in allen diesen Themengebieten mitschwingt. Der offensichtliche, aber auch der strukturelle, der in Institutionen zu finden ist. Er führt zu Ausbeutung, weil noch ein gewisses Denken in Vorurteilen und Stereotypen vorhanden ist, die durch den Kolonialismus geprägt wurden. Dass Menschen, wie es früher hieß, „aus der dritten Welt“, dem globalen Süden, nicht dieselben Eigenschaften oder Arbeitsfähigkeiten mitbringen wie jemand aus dem globalen Norden.

Wie wichtig ist es, sich immer wieder kritisch selbst zu hinterfragen, um diesen Denkmustern zu entgehen?

Laura Büttgen  Postkolonialismus verfolgt einen rassismuskritischen Ansatz und will zur Dekolonialisierung beitragen, insofern wird eine kritische Reflexion vorausgesetzt. Wir hoffen auf Publikum, das dem offen gegenübersteht. Es werden Themen behandelt, die mittlerweile in den Medien öfter vorkommen oder von denen man schon einmal gehört hat, aber je intensiver man damit in Berührung kommt, umso erstaunter, betroffener oder entsetzter ist man vielleicht: „Ich habe damit nichts zu tun“ oder „Ich bin das nicht“. Da sind wir auf die Reaktionen und Diskussionen gespannt. Wir wollen niemanden zu etwas aufrufen, sondern in unserer Arbeit eine Öffentlichkeit für die Themen schaffen, hoffen, dass sich Menschen damit näher auseinandersetzen und sich zu diesen Themen vernetzen. 

Was lässt sich aus der postkolonialen Vergangenheit und der aktuellen Diskussion für Kirche und Gesellschaft lernen?

Christiane Bongartz  Es geht um Menschenbilder. Gibt es eine Norm, die ich innerlich habe, obwohl ich das vielleicht gar nicht wusste. Ein Beispiel ist das Thema „Fleischindustrie“, die Frage: Finden wir das eigentlich normal, dass Leute ohne Arbeitsverträge in irgendwelchen Containern leben und für uns das Fleisch verpacken oder die Tiere schlachten? Das war jetzt viel in den Medien. Das Thema „Care-Arbeit“ weniger, aber das ist auch ein Riesenthema. Pflegekräfte aus Osteuropa, vor allem Frauen, die ohne Absicherung und Arbeitsverträge hierherkommen. Ein komplexes Problem, das sich nicht so leicht lösen lässt. Aber dahinter steckt die Frage, welches Menschenbild wir eigentlich haben. Insofern ist das Ganze auch politisch und auch interessant für uns als katholische Einrichtung. 

Welche Verantwortung haben wir da als Christinnen und Christen?

Christiane Bongartz  Wir stehen als Kirche für Solidarität und Gerechtigkeit. Der Kern ist das Liebesgebot, wenn man es mal runterbricht auf Jesus und seine Botschaft. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist ja letztlich eine Gerechtigkeitsfrage, und wir gucken da auf Strukturen. Da steht die Kirche glücklicherweise in einer langen Tradition, Unrecht anzusprechen und anzuprangern. Kolonialismus und Postkolonialismus ist rassistisches Unrecht, das sind Unrechtssysteme, in denen Menschen keine Freiheit bekommen, ihr Leben als Menschen mit eigener Würde und eigenen Rechten zu leben.

2020 hat sich das Bündnis „Aachen postkolonial“ gegründet, an dem auch die Akademie beteiligt ist. Was macht das Thema in Bezug auf Aachen so spannend?

Laura Büttgen  Aachen ist eine der Städte, von der viele behaupten würden, Kolonialismus, damit haben wir doch gar nichts zu tun gehabt. Aber wenn man näher hinschaut, entdeckt man Namen, Straßen, Gebäude, die damit in Verbindung gestanden haben. Zweitens haben wir hier in Aachen die drei kirchlichen Hilfswerke Missio, Misereor und Kindermissionswerk „Die Sternsinger“, mit denen wir auch als Akademie in Verbindung stehen. Da war direkt Interesse, zur Thematik zusammenzuarbeiten. Zum einen arbeiten sie in und mit Ländern im globalen Süden und machen da gute Arbeit, zum anderen wollen sie sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen. Bei den Treffen ist eine Reflexion dabei gewesen: Wie sieht man das selbst, welche Stolpersteine erkennt man in der eigenen Arbeit?

Christiane Bongartz  Ich denke, es gab da schon immer ein Bewusstsein für die Problematik, und Mission wird ja auch schon lange nicht mehr so verstanden wie noch vor hundert Jahren, wo grausame Dinge passiert sind, um das Christentum an den Mann oder die Frau zu bringen. Vieles ist da bereits aufgearbeitet, aber es gibt immer noch mehr zu entdecken, was da an Haltungen und an Grundverständnis von Weltvorstellungen zugrunde liegt. Wie stellt man sich eine Welt vor, in der auch der globale Süden auf Augenhöhe gesehen wird? Wie sind Projekte zu denken, wenn die Menschen dort als Partner gesehen werden? Was die Hilfswerke ja auch schon lange machen. Da geht es nicht darum, ihre Arbeit zu bewerten, was wir auch gar nicht können, sondern darum, dass das auch für sie ein interessantes Thema ist, das wir gerne mit ihnen zusammen angucken würden. Auch, weil da viel Expertise vorhanden ist.

Zur Frage, was das mit Aachen zu tun hat. Das ist genau das Problem, wenn man sagt, das hat doch mit uns eigentlich nichts zu tun. Das ist eine ganz privilegierte Haltung, die wir hier haben können, weil wir uns mitten in Europa befinden und das ausblenden können. Genau dagegen wenden sich die Reihen, die aufzeigen: Es ist ein gegenwärtiges Problem, das man sich in vielen Bereichen ansehen kann, wie dem Klimawandel, der auch eine große Frage von Gerechtigkeit ist und dessen Folgen die Länder im globalen Süden stärker treffen. Ein guter Ansatz ist, es mit Augenhöhe zu versuchen.

Das Gespräch führte Andrea Thomas.