Manfred Deselaers, Priester des Bistums Aachen, lebt als Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz seit über 30 Jahren in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Im dortigen Zentrum für Dialog und Gebet begleitet er insbesondere Schülergruppen beim Besuch der Gedenkstätte und hilft ihnen dabei, ihre Eindrücke verarbeiten zu können. Geboren wurde Deselaers 1955 in Düsseldorf, aufgewachsen ist er in Viersen. Nach seiner Zeit als Kaplan in Mönchengladbach ging er 1989 nach Polen.
Sie leben seit über 30 Jahren in Oswieçim und arbeiten im Zentrum für Dialog und Gebet in der Nähe der Gedenkstätte Auschwitz. Warum haben Sie sich für die Arbeit dort entschieden?
Es hatte sich irgendwie so ergeben. Nach dem Abitur 1974 habe ich anderthalb Jahre mit der Aktion Sühnezeichen einen Friedensdienst in Israel gemacht, die meiste Zeit in einem Heim für körperbehinderte Kinder. Zur Vorbereitung waren wir auch in Auschwitz. Seitdem hat mich das Thema nicht mehr verlassen. Als ich Priester wurde, hatte meine erste Gemeinde eine Partnerschaft mit der polnischen Stadt Wrocław, früher Breslau. Ich habe dann eine Fahrt dorthin und nach Auschwitz organisiert und den dortigen Pfarrer kennengelernt. So kam ich auf die Idee, ein Jahr bei ihm mitzuleben. Bischof Klaus Hemmerle war damit einverstanden. Aus diesem einen Jahr sind inzwischen – seit 1990 – 33 geworden!
Seelsorge am Ort des größten Menschheitsverbrechens – wie gelingt das überhaupt?
Das Wichtigste ist, einfach da zu sein, mitzuleben, und die Themen, die aus der Erinnerung hochkommen, und die Menschen, denen ich begegne, in der Seelsorge ernstzunehmen. Ich bin in der Pfarrei Gast ohne eigenes missionarisches Programm, aber als Priester nehme ich am liturgischen Leben teil. Mein Seelsorgeauftrag ist jedoch nicht Pfarrseelsorge, sondern die rund um Auschwitz. Zunächst habe ich fünf Jahre lang eine Doktorarbeit geschrieben, um besser zu verstehen, worum es geht: „Gott und das Böse im Hinblick auf den Kommandanten von Auschwitz“, inzwischen in vier Sprachen veröffentlicht unter dem Titel „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ In der Zeit entstand nicht weit weg von der Gedenkstätte das katholische Begegnungshaus „Zentrum für Dialog und Gebet“, mit 150 Übernachtungsplätzen, Restaurant, Gruppenräumen, Konferenzsälen, Kapelle. Seit 1995 arbeite ich hier als deutscher Seelsorger mit. Unsere Gäste besuchen vor allem die Gedenkstätte und wollen darüber nachdenken, reden oder schweigen, beten und anderen Menschen begegnen. Dabei versuche ich zu helfen.
Wie erleben Sie die Menschen, die die Gedenkstätte besuchen?
Die Besucher sind immer sehr betroffen. Oft sind sie überwältigt von den riesigen Dimensionen, schon allein, was das Gelände angeht, aber vor allem auch durch die Dimensionen von Grausamkeit und Menschenverachtung. Oft fällt es dann schwer, das alles in Worte zu fassen. Junge Menschen heute, alle nach 2000 geboren, fühlen meistens keinen direkten Familienbezug mehr zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Aber sie merken doch, dass diese Geschichte bis heute nachwirkt und die Beziehungen etwa zwischen Deutschen und Polen, Juden und Christen beeinflusst. Auschwitz war möglich, also ist es möglich, also kann es wieder geschehen, also beschreibt es die Größe unserer Verantwortung.
Auschwitz steht als Symbol für den Holocaust. Viele Menschen stellen sich sicherlich oft auch die Frage: Wie konnte Gott das zulassen? Wie ist Ihre Antwort darauf?
Wenn Juden das fragen, denken sie oft an den Auszug aus Ägypten, den die Bibel beschreibt. Damals hat Gott gerettet, warum hat er es nicht hier getan? Darauf gibt es aber auch jüdische Glaubensantworten. Wenn deutsche Christen mich das fragen, bin ich schnell misstrauisch. Warum fragen sie nach der Verantwortung Gottes und nicht nach der Verantwortung der eigenen Leute?
Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild, so fängt die Bibel an. Es gibt eine göttliche Würde und eine göttliche Berufung in jedem Menschen. Das hat mit Liebe zu tun: ganz geliebt zu sein und ganz zur Liebe berufen zu sein. Die rassistische Ideologie der Nazis hatte ein anderes Menschenbild, und oft denke ich, dass dieses biblische Menschenbild auch heute vielen Menschen sehr fremd ist. In Auschwitz gab es Menschen, denen Gott sehr fern war, aber auch solche, für die ihr Glaube an die Nähe Gottes der Halt war, dank dessen sie überlebt oder auch angesichts des Todes nicht die Hoffnung verloren haben.
In Deutschland und ganz Europa beobachten wir, dass rechtsextreme und nationalistische Parteien sehr viel Zuspruch erhalten. Wie gefährlich ist dies aus Ihrer Sicht?
Die Tendenz, egoistisch das Eigene zu schützen und Störenfriede auszuschließen, ist scheinbar normal menschlich, aber tödlich. Wahres Leben entsteht nur mit anderen, mit der Bereitschaft, Verantwortung für die gemeinsame Welt zu übernehmen, mit opferbereiter Liebe. Eine Schulung des Dialogs als Lebensstil nach dem Vorbild Jesu, ein Glauben an die Notwendigkeit einer Zivilisation der Liebe ist, so scheint mir, das einzige, was uns retten kann.
Ist die Erinnerung an den Holocaust deswegen so wichtig?
Diese Erinnerung sagt uns, dass es möglich war und also möglich ist, und deshalb spricht sie von der Dimension unserer Verantwortung heute. Normale Menschen haben Auschwitz möglich gemacht. Was haben sie falsch gemacht? Was hatten sie für ein Menschenbild? Wovor hatten sie Angst? Worauf hatten sie ihre Hoffnung gesetzt? Und wir, was lernen wir daraus?
Jährlich vergibt die Edith-Stein-Gesellschaft in Wrocław den Edith-Stein-Preis an Menschen, die sich grenzüberschreitend politisch, sozial oder gesellschaftlich engagieren. 2019 zeichnete die Gesellschaft Manfred Deselaers für seine Erinnerungsarbeit in der Gedenkstätte aus.