Es braucht eine klare Haltung

Wie funktioniert die deutsche Erinnerungskultur? Eine Diskussion

Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November vor der Aachener Synagoge. Der Rabbiner der Aachener Gemeinde Michael Jedwabny spricht das Totengebet. Schülerinnen und Schüler des Einhardgymnasiums stellten zu den Ereignissen aktuelle Bezüge her. (c) Kathrin Albrecht
Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November vor der Aachener Synagoge. Der Rabbiner der Aachener Gemeinde Michael Jedwabny spricht das Totengebet. Schülerinnen und Schüler des Einhardgymnasiums stellten zu den Ereignissen aktuelle Bezüge her.
Datum:
23. Nov. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 47/2022 | Kathrin Albrecht

„Nie wieder“ oder „Wehret den Anfängen“ – häufig sind solche Sätze bei Gedenktagen wie dem Jahrestag zur Pogromnacht am 9. November zu hören. Doch 84 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Juden weltweit mit einem erstarkten, vielfältigen Antisemitismus konfrontiert. Müssten aktuelle Bedrohungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht einen zentralen Platz im Gedenken einnehmen?  

Ist das Erinnern die „höchste Form des Vergessens“? Unter dieser Fragestellung hatten das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (Cars) der Katho Aachen die DGB-Jugend und die Jüdische Gemeinde Aachen zur Diskussion in das Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde eingeladen. Unterstützt wurde die Veranstaltung außerdem vom Asta, dem Studierendenparlament, sowie dem Arbeitskreis Politik der Katho und Diskursiv Aachen. Grußworte entrichteten Friedrich Thul, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, und Jerome Schmitz von der DGB-Jugend, der die Frage stellte, was Erinnerungskultur leisten müsse, um zu verhindern, in schiere Phrasen zu verfallen. Anschließend gab Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katho Aachen und Co-Leiter des Cars’, eine Übersicht über 80 Jahre deutsche Erinnerungskultur. Zugleich übernahm er die pädagogische Perspektive auf dem Podium. Die ursprünglich eingeladene Referentin Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, musste absagen.

80 Jahre deutsche Erinnerungskultur

Abwehr, Nichtwahrhabenwollen und Relativismus kennzeichnen die 1950er Jahre. Die Abwehrhaltung erfahre heute ein Revival durch die AFD, die in den Debatten meist diese Position bedient. Die 1960er Jahre markieren den Beginn der Aufarbeitung, explizit auch mit der Verantwortung an der Shoa. Vor allem die 68er-Bewegung habe entscheidende Impulse gesetzt, denn diese Generation hatte genug vom Schweigen der Eltern. Die kommenden drei Jahrzehnte waren geprägt von einer sukzessive breiteren gesellschaftlichen Debatte über die Erinnerungskultur. Schlagworte aus diesen Jahrzehnten sind unter anderem die Rede  Richard von Weizsäckers zum 8. Mai, aber auch der Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf einer Kriegsgräberstätte in Bitburg, auf der auch SS-Angehörige begraben waren, die Goldhagen-Debatte und die Debatte um die Wehrmachtsausstellung.

Bekenntnis zum Staat Israel gefordert

Seit Ende der 90er mündeten diese Debatten in ein „Dauergespräch über Nationalsozialismus“. Mit diesem Resümée verknüpfte Grigat die Frage, ob die institu- tionalisierten Formen der Erinnerung zum 9. November, 8. Mai oder 27. Januar ausreichen insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Qualität der Angriffe gegen die Gedenkkultur verändert hat. Seit den Terrorangriffen vom 9. September 2001 und der Zweiten Intifada spielen islambezogener Antisemitismus und Islamismus eine wachsende Rolle. Hinzu komme eine Position innerhalb der postkolonialen Diskussion, die eine Präzedenz der Shoa abstreitet.

Für Peter M. Janku (Jüdische Gemeinde Aachen) sind die hier angerissenen Fragen brennende Fragen in der aktuellen Diskussion. Und er gab zu bedenken: „Wir gedenken der toten Juden. Doch was ist mit den lebenden Juden in Deutschland und Israel?“ Er unterstrich, dass es auch um die Nachfahren gehe. Auch die Traumata der zweiten und dritten Generation seien relevant. Sie müssten in das Gedenken mit einbezogen werden. Befremdlich findet er, dass dem Antisemitismus von rechts viel Raum gegeben werde. Weniger beachtet würde aber der Antisemitismus von links und der islamistische Antisemitismus.

Für Sabine Leutheuser-Schnarrenberger (Bundesministerin a.D., Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen) ist die Erinnerungskultur unverzichtbar. Gerade junge Menschen wollten an die historischen Ereignisse anknüpfen, sie einordnen und fragen: „Was heißt das für uns heute?“ Hier leisteten die Gedenkstätten pädagogisch wertvolle Arbeit. Auf politischer Ebene kritisierte Peter Janku die ambivalente Nahostpolitik Deutschlands. „So etwas untergräbt den Kampf gegen den Antisemitismus.“
Alle waren sich einig, dass Deutschland eine klarere Haltung in seiner Nahostpolitik entwickeln müsse, insbeson-dere gegenüber Regimen, die Israel das Existenzrecht absprächen. Denn Antisemitismus bedrohe letztendlich auch die Demokratie.

Bildung, besonders auch für junge Menschen, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, könne helfen, die Bedeutung der Erinnerungskultur für sie begreifbar zu machen und zu verhindern, dass Erinnern zum Vergessen wird. 

Die Referentin und Referenten der Podiumsdiskussion

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