„Ich habe den Eindruck, dass man im Hier und Jetzt und vielleicht in der Zukunft auf einem guten Weg ist, aber dass es in der Aufarbeitung der Vergangenheit noch hapert. Vieles fehlt, es besteht viel Unzufriedenheit bei Betroffenen und der Aufarbeitungskommission. Da geht es mir manchmal einfach zu quälend langsam“, brachte der Journalist Oliver Schmetz seine Sichtweise auf den Punkt. Aufarbeitung, Verantwortung und der Umgang mit sexualisierter Gewalt im Bistum Aachen standen im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion an der RWTH Aachen.
Eingeladen hatten das Kollektiv der Fachschaft 7/1 Philosophie und das Hochschulradio Aachen. Rund 200 Menschen verfolgten die Diskussion im Grünen Hörsaal, zudem gab es einen Live-Stream. Auf dem Podium diskutierten Prof. Dr. Thomas Kron vom Institut für Soziologie der RWTH Aachen, Paul Leidner, Mitglied der Aufarbeitungskommission im Bistum Aachen und entsandt aus dem Betroffenenrat des Bistums Aachen, der Tageszeitungsredakteur Oliver Schmetz (Mediahuis Aachen) und Marliese Kalthoff, Pressesprecherin und Leiterin der Hauptabteilung Kommunikation und Digitalisierung des Bistums Aachen. Dr. Steffen Jöris hatte die Moderation übernommen.
In einem einleitenden Vortrag hatte Thomas Kron anhand eines Falls skizziert, wie in den vergangenen Jahrzehnten „die Kirchenverantwortlichen die Taten vertuscht haben“ und identifizierte Elemente solcher Vertuschungsstrategien wie „Versetzung, Verharmlosungsgeschichten, Täter-Opfer-Umkehr, Verharmlosung der Gewalt, Brüderlichkeitsethik, Kuhhandel und Schweigen“. „Sie haben die Unerträglichkeit komprimiert dargestellt und sehr schonungslos die Probleme der Kirche in der Vergangenheit offengelegt, die auch von dem unabhängigen Gutachten dokumentiert wurden“, sagte Bistumssprecherin Marliese Kalthoff, die angesichts vieler mittlerweile aufgearbeiteter Fälle von einer „kompletten Desorganisation von Verwaltung gepaart mit dem Vorsatz des Vertuschens in dieser Zeit“ sprach und betonte: „Es kann keine Relativierung des Unrechts geben.“
Damit sich Unrecht aber nicht wiederholt beziehungsweise neues Unrecht geschieht, habe es seit dem Jahr 2020 im Bistum Aachen über 35 Einzelmaßnahmen zur Prävention gegeben: Von der einheitlichen, digitalen Personal- und Sachaktenführung bis zur Reform der Priesterausbildung, die sich signifikant von der bisherigen Priesterausbildung unterscheide, und bei der die Auswahl von Kandidaten in Verbindung mit unabhängigen Psychologen geführt werde. „Jedweder Vorwurf, der heute gemeldet wird, landet umgehend bei einem Krisenstab. Alle Vorwürfe werden an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Hier arbeitet keiner mehr selbst etwas auf oder es landet im Aktenstapel“, stellte Marliese Kalthoff auch systemische Veränderungen vor.
Zum Schutz vor sexualisierter Gewalt seien zusätzliche Sicherungssysteme eingebaut worden, erläuterte sie. Jeder, der beispielsweise mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeite, müsse alle fünf Jahre ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. „Die Vorwürfe aus der Vergangenheit sind leider auch ein Sittengemälde der Zeit. Die Priester galten als sakrosankt, unantastbar“, blickte Marliese Kalthoff zurück. Diese Zeiten seien endgültig und unumkehrbar vorbei.
„Ich glaube Ihnen ja sogar, dass Sie etwas verändern wollen, dass Sie Transparenz schaffen wollen“, entgegnete Journalist Oliver Schmetz: „Aber das dauert alles so unendlich lange. Die Menschen, die betroffen sind, die gelitten haben und immer noch leiden, die sterben so langsam – und viele davon, ohne dass sie Genugtuung erfahren.“ „Es geht alles viel zu langsam“, bilanzierte auch Paul Leidner aus Sicht der Betroffenen. „Im jetzt laufenden Tempo diskutieren wir vermutlich noch 50 Jahre, Betroffene werden keine Gerechtigkeit erfahren, sie werden sang- und klanglos aussterben, und das Thema mit der Aufarbeitung wird irgendwann mal vielleicht ein kirchengeschichtlich interessantes Thema“, forderte Leidner eine bessere Personalausstattung bei der Aufarbeitung und der Bearbeitung der Entschädigungszahlungen – und kein Spiel auf Zeit. Paul Leidner: „Betroffene, die heute 70, 80 oder 90 Jahre alt sind, werden keine Gerechtigkeit mehr erfahren, wenn wir uns darüber noch verständigen würden, was denn an der Stelle Gerechtigkeit eigentlich heißt. Ist Gerechtigkeit vernünftige Aufklärung? Vermutlich eindeutig ja. Ist Gerechtigkeit eine angemessene Entschädigung? Vermutlich auch eindeutig ja. Aber dazu gibt es noch jede Menge Handlungsbedarf.“
Als Mitglied der Aufarbeitungskommission forderte er den Gesetzgeber dazu auf, rechtlich die Verjährung für sexualisierte Gewalt aufzuheben, damit kommende und auch laufende Verfahren abgeschlossen werden können. Doch auch ohne solche Änderungen des Gesetzgebers müsse sich Kirche „an ihre moralische Nase fassen lassen“. Paul Leidner: „Es ist schlicht amoralisch, sich erst nicht richtig um die Mitarbeitenden zu sorgen und sich dann hinter die Schranke der Verjährung zu verziehen. Ein besseres Beispiel für unmoralisches Verhalten fällt mir nicht ein.“ Eine Kerbe, in die auch Oliver Schmetz schlug: „Betroffenen dazu zu ermutigen, den Klageweg zu beschreiten und dann die Verjährungskarte zu spielen – das ist für mich die moralische Bankrotterklärung.“
Betroffene hätten einen Anspruch darauf, dass Anträge auf Anerkennung des Leids und Entschädigungszahlungen schnell bearbeitet werden, betonte Bistumsvertreterin Marliese Kalthoff, die sich dafür entschuldigte, dass es gerade nach der ersten Nennung von Täternamen auch schon längere Wartefristen gab. „Wir müssen in solchen Situationen klar sagen: Was ist möglich – und was ist vielleicht erst in vier oder fünf Monaten möglich“, sicherte sie eine direktere Rückmeldung zu. Zur Frage der Verjährungsfrist bei Zivilprozessen berief sie sich auf die „Entscheidung der Gremien“, an die der Bischof gebunden sei. Marliese Kalthoff: „Jede Klage wird einzeln angeschaut.“
Von Moderator Dr. Steffen Jöris darauf angesprochen, ob das Bistum Aachen aus seiner Sicht auf einem guten Weg bei der Aufarbeitung um im Umgang mit sexualisierter Gewalt sei, sagte Prof. Thomas Kron von der RWTH: „Der Weg kann erst dann gut sein, wenn die Betroffenen es so sehen. Gut ist, wenn alles getan wird, um neue Fälle zu verhindern und möglichst viele alte Fälle aufzuarbeiten.“ Er rechne damit, dass ein tiefgreifender „Strukturwandel“ in der Kirche noch dauern werde, vor allem mit Blick auf den Klerikalismus und den ausstehenden Identitätswandel im Selbstbild der Priester. „Was ich zur Prävention sehe, ist wirklich gut“, sagte Kron, der sich aber die Frage stelle: „Wer kontrolliert das denn? Es muss viel mehr kontrolliert werden.“
Den „Abbau von Klerikalismus“ nannte auch Paul Leidner ein grundlegendes Problem: „Der Klerikalismus von oben war gewollt. Der Priester war ein besonderer Mensch, gleich nach Gott. Vorwürfe gegenüber Täter-Priestern wurden von der Gemeinde in weiten Teilen schlicht geleugnet.“
„Die Kirche hat 30 Jahre lang viel getan, um diese schrecklichen Gewalttaten zu vertuschen. Die Frage, die dann noch bleibt: Ist es heute anders? Die Antwort, die ich jetzt hier geben möchte, ist ‚Jein‘. Man hört vereinzelt von Versetzungen, meines Erachtens gibt es immer noch Verharmlosungsgeschichten, es gibt bestimmt immer noch die Brüderlichkeit, es gibt immer noch einen Kuhhandel, sofern die staatlichen Akteure immer noch nicht genug intervenieren und den Kirchen zu viel überlassen. Aber es gibt mittlerweile in der Kirche andere Strukturen: Interventionsstrukturen, Präventionsstrukturen, manchmal auch Postventionsstrukturen. Und es gibt vor allen Dingen eine gesteigerte öffentliche Sensibilität. Sozusagen eine Steigerung des Misstrauens gegenüber Priestern und der Kirche insgesamt. Und ich möchte hoffen, dass diese strukturellen Veränderungen verhindern, dass es solche Täter heute noch geben kann“, fasste Dr. Thomas Kron seine Eindrücke zusammen.
Dem „Jein“ von Kron setzte Marliese Kalthoff ein „klares Ja“ entgegen. „Es hat sich eine ganze Menge geändert“, verwies sie noch einmal auf die grundlegenden Änderungen bei Priesterausbildung und Prävention: „Diese Transparenz ist in den einzelnen Einrichtungen und Kirchengemeinden etabliert.“
„Der Abend war bewegend, informativ und aufwühlend“, fasste Stefan Hofknecht, Diözesan-Bildungsreferent der Katholischen jungen Gemeinde Aachen, die Diskussion zusammen. „Die Aufarbeitung des Bistums beurteile ich differenziert. Ich glaube, es wird viel gemacht, es wird viel Geld in die Hand genommen, es werden demokratische Strukturen etabliert, die aber nun erstmal wirken müssen und ins Laufen kommen müssen“, sagte er. Vom Bistum erwarte er, dass die Betroffenen gehört, die Präventionsarbeit gestärkt und die „Systeme aufgearbeitet werden“.
Das Bistum Aachen setzt die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Priester und andere kirchliche Beschäftigte konsequent fort. Ein wesentliches Element der Aufarbeitung ist die Einrichtung eines sogenannten Hinweisgeber-Systems. Online können – auch vollkommen anonym – Meldungen oder Verdachtsmomente zu sexualisierter Gewalt abgegeben werden. Betroffene, Zeugen und auch Angehörige können sich zudem vertrauensvoll an die entsprechende Hotline im Bistum Aachen (0241/452-225) wenden, um Missbrauch zu melden oder Hinweise zu geben. Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen die Meldung entgegen, besprechen das weitere Vorgehen und informieren über Beratungsstellen und Hilfsangebote. Innerhalb von 72 Stunden gibt es eine erste Rückmeldung auf die Meldung.