Erinnerungskultur muss gepflegt werden. Die Geschichte ist nie auserzählt. Das ist die Erkenntnis von Timo Ohrndorf, der als Geschichtslehrer 2019 mit seinem Kurs die Historie des „Judenhauses Villa Buth“ aufgearbeitet hat. Im Nachklang ist ein Buch erschienen, das eigentlich einer Aktualisierung bedürfe, wie der heutige stellvertretende Vorsitzende der Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen meint.
„Es gibt noch viele Details, die offen geblieben sind, bei denen man weiterforschen sollte und auch müsste“, sagt Timo Ohrndorf heute. In einem Schulprojekt entstand mit seinem Geschichtskurs am Heilig-Geist-Gymnasium Würselen das Buch mit Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der Villa Buth, eine DVD mit einem gut 40-minütigen Film und ein 3-D-Modell des Gebäudes, das heute nur noch als ruinöser Bau an die unrühmliche Vergangenheit erinnert.
In Kirchberg bei Jülich befindet sich an der Ortsdurchfahrt hinter einer Ziegelmauer gelegen die ehemalige Fabrikantenvilla „Villa Buth“. In den Zeiten der Industrialisierung wurde der Prachtbau 1893 durch den Papierfabrikanten Eichhorn für seine Tochter Clara und ihren Mann Emil Buth errichtet – Namensgeber der Villa bis heute. 1941 wurde das Gebäude von den NS-Behörden beschlagnahmt. Es diente von März 1941 bis Juli 1942 als „Judenhaus“ des damaligen Kreises Jülich sowie als Sammellager für die bevorstehende Deportation der jüdischen Bevölkerung in das Konzentrationslager Theresienstadt und anschließend in die Vernichtungslager. Sie war eine „Zwischenstation zum Holocaust“.
Soweit die Fakten, wie sie im Buch nachzulesen sind. Ein wichtiges Anliegen war es, jedem der Insassen ein Gesicht zu geben. Das heißt: Alle Opfer wurden genannt und mit einem Foto „sichtbar gemacht“. Die Liste der Insassen ist nach bestem Gewissen 2019 erstellt worden. Im Nachklang zur Veröffentlichung wurde klar: Die Liste ist unvollständig. So fehlt eine weiterführende Recherche zum Schicksal von Kindern, die nach Berichten von Zeitzeugen in der Villa Buth gelebt haben. Eine von ihnen ist Elfriede Görtz. Die heute 89 Jahre alte Kirchbergerin entkam aus der Villa Buth und ist in Schulen unterwegs, um Jugendlichen authentische Geschichte zu vermitteln. Dem Kurs von Timo Ohrndorf stand sie beratend, auskunftgebend und hilfreich zur Seite. Elfriede Görtz erhält 2024 den Preis für Zivilcourage der Jülicher Gesellschaft.
Einige „weiße Flecken“ sieht der Historiker außerdem, die der Aufarbeitung harren. Dabei geht es um einen ungeklärten Todesfall und den Verbleib des Leichnams, um ein Beispiel zu nennen. Im Stadtarchiv Jülich gibt es Wiedergutmachungsakten. Susanne Richter, Leiterin des Stadtarchivs, hat Timo Ohrndorf einige Dokumente zugesandt, denen vieles entnommen werden könne, was in der Villa Buth geschehen ist. „Es haben ja nicht viele überlebt, aber einige Verwandte und Bekannte, die sich diesbezüglich geäußert haben“, erläutert Timo Ohrndorf. Gleichzeitig gibt es Informationen, wie die Kirchberger zunächst mit den Insassen und in der Folge mit dem Erbe „Villa Buth“ umgegangen sind. „Wir haben Anzeichen erhalten, dass verschiedene Menschen den jüdischen Inhaftierten geholfen haben. Das ist auch im Buch beschrieben. Ein Beispiel ist Sibylla Schüssler, die Großmutter des Preisstifters Anno August Jagdfeld (siehe unten, Anm. d. Red.), die bislang unbekannt war.“
Ungeklärt ist die Frage, wie eine Industriellenvilla überhaupt zu einem „Judenhaus“ werden konnte. Was wurde aus den Arbeitern, die wohl in der Villa lebten und wegen der Okkupation durch die Nazis ausziehen mussten? Was wurde aus den Möbeln, die die Inhaftierten mitbrachten, für die aber im Wohnraum kein Platz war? Befinden sich vielleicht einige sogar noch in heutigen Wohnräumen am Ort? „Diese Frage haben wir uns im Kurs schon 2019 gestellt”, erzählt Timo Ohrndorf. Wurde die Mauer von den Erbauern errichtet oder von den Nazis als „Sichtschutz“ für das Ungeheuerliche, was niemand sehen sollte? Wie viel haben die Menschen in Kirchberg gesehen und erlebt und wollen es heute nicht mehr wahrhaben? Eine Zeitzeugin hat Timo Ohrndorf genau das gesagt: „Es will nicht jeder wissen, was dort passiert ist.“ So wird von Schmähungen gesprochen wie „Juda verrecke“, das auf die Mauer der Villa geschmiert worden sein soll. Vieles könne sie, wolle sie aber nicht erzählen.
Schließlich steht das Thema der Folgenutzung noch auf dem Forschungsplan. Wer hat nach dem Krieg bis in die 2000er Jahre in der Villa gewohnt? Bekannt ist, dass einige Migranten dort untergebracht waren. Alles weitere ist völlig unklar. „Wir haben nur an der Oberfläche gekratzt“, sagt der Historiker.
Timo Ohrndorf betont die Bedeutung des Gebäudes und der Forschung für die Zukunft: „Die Villa Buth ist das einzige Gebäude, das noch Zeugnis ablegt. Es ist ein Ort, der Erinnerung ermöglicht und die Zeit der Judenverfolgung im Jülicher Land präsent macht. Wichtig ist es auch, weil es für die Jugendlichen heute die Zeit anschaulich und präsent macht. Es darf nie zu Ende sein. Auch wenn man das Thema Villa Buth nur abstrakt sieht und nicht vom Bauwerk her betrachtet. Dort haben Menschen gelebt, die Nachbarn wie du und ich gewesen sind. Wenn es mit diesen Menschen geschehen konnte, wer weiß, ob es nicht wieder geschehen kann.“