Am 27. Januar wird der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Auch im Bistum Aachen organisieren Initiativen Gedenkveranstaltungen. Welchen Nutzen haben solche Gedenktage vor dem Hintergrund eines wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft, des Massakers vom 7. Oktober und einer starken AfD? Kathrin Albrecht sprach mit Professor Stephan Grigat, Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule (Katho) Aachen.
Herr Professor Grigat, ist es nicht langsam gut mit dem Erinnern?
Die Frage zeigt bereits das Problem auf. Ich habe allerdings auch ein Problem mit dem Begriff „Erinnerungskultur“, ich würde lieber über „Erinnerung“ reden. Die Forderung, dass ein Schlussstrich gezogen werden soll, ist nichts Neues, sie ist bereits im Jahr 1945 aufgekommen – wenige Monate nach Beendigung dieses unglaublichen Grauens. Das ist nie wieder verschwunden.
Können Sie das skizzieren?
In periodischen Abständen gibt es immer wieder Wellen von aggressiver Vergangenheitsabwehr – so würde ich das nennen – , die darauf zielen, die deutsche Schuld zu tilgen. Die politische Intention dahinter ist, dass die deutsche Nation, befreit von dieser Schuld, wieder eine wichtigere Rolle, auch in der Weltpolitik, spielen soll. Historisch hat die Wiedervereinigung einen entscheidenden Einschnitt bedeutet, denn bis dahin war für die ganze Welt sichtbar, dass es eine Besonderheit in Deutschland gibt – und der Grund ist die deutsche Schuld am Nationalsozialismus und der europäischen Judenvernichtung. Diese sichtbare Schuld ist weggefallen.
Was hat das für Auswirkungen gehabt?
Im Nachgang der Wiedervereinigung gab es eine aggressive Welle der Vergangenheitsabwehr. Es gab eine Re-Nationalisierung, ein Wiederaufleben eines alten Nationalismus, eine Reihe rassistischer Pogrome, eine Welle von Antisemitismus. Seitdem haben wir eine neue Form von deutscher Vergangenheitspolitik, die begonnen hat mit der ersten rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Die haben für sich selbst in Anspruch genommen, dass sie das Verdienst der 68er-Bewegung aufgreifen, die nationalsozialistischen Verbrechen zu thematisieren. Allerdings denke ich, dass auch an dieser neuen Vergangenheitspolitik viel zu kritisieren ist.
Was zum Beispiel?
Diese Vergangenheitsoffensive scheint zur Folge zu haben, dass man stolz darauf ist, Vergangenheitsaufarbeitungsweltmeister zu sein. Das wird stark durch das Holocaust-Mahnmal in Berlin symbolisiert. Es ist der sichtbare Beweis, dass sie die Vergangenheit aufgearbeitet haben und deswegen nun wieder international Politik machen dürfen und beispielsweise den osteuropäischen Ländern und auch Israel sagen dürfen, wie sie sich zu verhalten haben. Das war vorher für die deutsche Politik weitgehend ein Tabu. Auch der Kulturbegriff ist problematisch, er klingt zu sehr nach staatspolitischer Inszenierung. Der Kern, um den es geht, ist die Erinnerung an die Opfer und die Erinnerung an die Täter.
Wie erleben Sie das Erinnern aktuell?
Mir scheint der Fokus stark auf die Erinnerung an die toten Juden ausgerichtet zu sein. Die Frage ist aber, die auch in Israel immer wieder gegenüber den Deutschen formuliert wird, was ist mit den Lebenden? Es fehlt oft die konkrete Unterstützung. Kritisch ist auch, dass der Antisemitismus im globalen Maßstab kaum thematisiert wird. Wenn man sagt, dass man etwas aus der Vergangenheit gelernt habe, müsste man über das holocaustleugnende iranische Mullahregime sprechen, und über den Antisemitismus der Hisbollah und der Hamas, jene Gruppen, die heute die unmittelbarste Gefahr für jüdisches Leben auf der Welt sind. Diese Bedrohung ist in mancherlei Hinsicht konkreter als die Agitation durch die AfD.
Erlauben Sie trotzdem den Einschub: Welche Rolle spielt die AfD?
Die AfD hat als einen zentralen Punkt die Agitation gegen den sogenannten „Schuldkult“. Das ist ein aggressiver Angriff auf die deutsche Erinnerung an die nationalsozialistischen Massenverbrechen. Und weil sie im Bundestag stark vertreten ist, gewinnt das auch wieder eine gesellschaftspolitische Relevanz. Eine Umfrage der Bertelsmannstiftung zeigt, dass die Forderung nach einem Schlussstrich eine breite Zustimmung hat, die wieder deutlich höher ist als Ende der 90er Jahre.
Was passiert, wenn die AfD bei den kommenden Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Ländern stärkste Partei wird?
Auch wenn die AfD 30 Prozent der Stimmen auf sich vereint, hat sie nicht die absolute Mehrheit. Da stehen die anderen Parteien in der Verantwortung. Da sehe ich ein Problem. Denn in Teilen der CDU, aber auch der FDP, gibt es Leute, die aus machtpolitischen Gründen eine Koalition mit der AfD erwägen. Auch müsste die CDU eine (Mit-)Regierung der Linken dulden, um die AfD zu verhindern. Bei aller kritischen Einstellung zur Linken stellt diese Partei keine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat dar. Die AfD schon. Das ist eine antidemokratische Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, die echte Demokratie zu vertreten. Das zielt aber gerade auf die repräsentativen Elemente der Demokratie ab. Die AfD vertritt eine rechte Vorstellung von direkter Demokratie und es gibt sehr gute Gründe, warum in Deutschland nach 1945 starke repräsentative Elemente eingeführt wurden.
Warum ist die AfD so erfolgreich?
Die AfD hat frühzeitig einige gesellschaftspolitisch drängende Themen aufgegriffen, die andere Parteien ignoriert haben. Das sind beispielsweise Probleme mit dem politischen Islam, Antisemitismus in Migrationsgesellschaften. Die anderen Parteien, vor allem diejenigen, die sich als links definieren, haben lange Zeit eine Thematisierung als Rassismus abgetan. Die AfD benutzt diese Themen auch dafür. Das ändert aber nichts daran, dass wir ein reales Problem damit haben. Genauso wie man sich mit Antisemitismus, Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit von Deutschen auseinandersetzen muss, muss man das auch hinsichtlich von Menschen machen, die aus anderen Teilen der Welt kommen. Damit haben gerade linke Parteien einen wichtigen Themenkomplex den Fremdenfeinden von rechts überlassen.
Kommen wir auf das Erinnern zurück. Läuft da etwas falsch und was?
In der Schule gibt es eine breite Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Aber die Beschäftigung mit dem Antisemitismus als zentralem Element in der NS-Ideologie kommt offenbar kaum vor. Man schildert empirisch, was Ausgrenzung, dann Deportation, dann Vernichtung der Juden gewesen ist, aber was dahintersteht, nämlich dieser verschwörungsmythische Vernichtungsantisemitismus, der den Nationalsozialismus ganz grundlegend charakterisiert, wird zu wenig analysiert.
Müsste die Beschäftigung damit in die Erinnerungsarbeit einfließen?
Das wäre erst einmal eine andere Form der Bildungsarbeit. In Bezug aufs Erinnern könnte ich das an Beispielen besser erklären: Ich war lange in Wien tätig und dort gab es auch Kundgebungen zum 9. November. Zur Zeit der zweiten Intifada haben wir mit der jüdischen Gemeinde eine Kundgebung organisiert und ausdrücklich zur Solidarität mit Israel aufgerufen. Außer uns Akademikern und der jüdischen Gemeinde hat aber niemand mehr teilgenommen. Die Vorbehalte gegenüber der jüdischen Armee und dem jüdischen Selbstverteidigungsrecht führen dazu, dass Menschen nicht teilnehmen. Auch bei den Novemberkundgebungen in Aachen gibt es kaum Solidaritätsbekundungen mit Israel. Aber das wäre eine Form, wie man es anders und besser machen könnte.
Was würden Sie sich für die kommenden Gedenkveranstaltungen wünschen?
Wir sind in der Zeit nach dem 7. Oktober. Das war der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden, der seit der Shoah stattgefunden hat. Die Bedeutung davon scheint mir in Deutschland noch nicht angekommen zu sein. Auch die deutsche Politik müsste ihre Haltung, beispielsweise gegenüber dem Regime im Iran, ändern. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner. Das Geld aus diesen Geschäften nutzt das Regime zur Finanzierung von antisemitischem Terror – darunter fällt auch das Massaker vom
7. Oktober. Dass darüber gesprochen wird, und dass daraus Konsequenzen gezogen würden, würde ich mir wünschen.