Der 9. November ist ein besonderes Datum in der deutschen Geschichte. 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen, 1989 fiel die Mauer. Aber das Datum steht auch für das dunkelste Kapitel der Geschichte: 1923 der Hitlerputsch in München und 1938 die Novemberpogrome. Die brennenden Synagogen und die geplünderten Geschäfte markierten den Beginn der systematischen Vernichtung der Juden.
Wie sich Julius Hermanns und sein Bruder Siegfried fühlten, als sie 1927 ihr Geschäft an der Hindenburgstraße in Mönchengladbach eröffneten, ist nicht überliefert. Vielleicht stolz darauf, dass sie nun Unternehmer waren? Vielleicht einfach zufrieden mit ihrem Werk? 36 Jahre war Julius damals alt, und wie man heute sagen würde: Das Leben lag noch vor ihm. Weil sich Hückelhoven durch den Steinkohleabbau immer mehr entwickelte, siedelten die Brüder mit ihrem Geschäft um. An der Hansberger Straße 108 (heute Mokwastraße) eröffneten sie ihr neues Stoffgeschäft. „Gebr. Hermanns“ stand in einer klaren, ordentlichen Schrift über der Tür. Auch ihr Nachbar war Jude.
Im Alltag dürfte das anfangs kaum thematisiert worden sein. Aber mit der Machtergreifung 1933 wurde ihre Religion zu einem „Makel“, der ins Konzentrationslager und schließlich in den Tod führte.
Als die Deutschen nach Frankreich kamen, war Julius Hermanns’ Schicksal besiegelt
Dabei gehörte Julius Hermanns zu denjenigen, die Kontakte ins Ausland hatten. Nach seiner Inhaftierung wegen „Rassenschande“ im KZ Dachau und Buchenwald wurde er entlassen. Als Auflage galt, dass er Deutschland sofort verlassen müsse. Im April 1939 stieg Hermanns zusammen mit 936 anderen jüdischen Flüchtlingen in Hamburg an Bord der „St. Louis“. Ziel war Kuba. Aber Kuba, die USA und Kananda verwehrten den Flüchtlingen das Landen, trotz gültiger Visa. Das Schiff strandete schließlich in Antwerpen, Julius Hermanns fand in Frankreich Aufnahme. Als die Nazis in Frankreich einmarschierten, war auch sein Schicksal besiegelt. Hermanns starb schließlich in Auschwitz. Das genaue Todesdatum steht nicht fest.
Julius Hermanns ist einer von sechs Millionen Juden, die von den Nazis verfolgt und umgebracht wurden. Wer heute über die Landstraßen in der Region Heinsberg fährt, kommt durch idyllische Dörfer, in denen jeder jeden kennt. Auch die jüdischen Nachbarn kannten die Menschen.
Ebenso wie in Städten wie Mönchengladbach die Menschen ihre Nachbarn im eigenen Viertel kannten. In den Geschäften ist man sich einst begegnet, hat Lebensmittel und Kurzwaren gekauft. Hat ein Schwätzchen beim Friseur gehalten. Ärzte behandelten ihre Patienten in Krankenhäusern und Arztpraxen. Manche waren Christen, manche Juden. So wie es katholische und protestantische Schulen gab, so gab es auch jüdische Schulen. Neben Kirchen hatten die Synagogen ihren Platz in der Stadt. Wie konnte es da zu diesem tödlichen Hass kommen?
Auf der Suche nach Antworten lohnt sich ein Blick in die dritte Auflage der Broschüre „Route gegen das Vergessen – Erkelenz erinnert sich“, die der Heimatverein der Erkelenzer Lande gerade herausgegeben hat. An zwölf Stationen in Erkelenz, Schwanenberg, Hetzerath und Lövenich wird die Entwicklung des Antisemitismus in der Gesellschaft und die Verfolgung nachgezeichnet. Erschreckend sind die Parallelen zu heutigen antisemitischen verbalen und tätlichen Übergriffen.
77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und 83 Jahre, nachdem am 9. November 1939 die Synagogen in Deutschland brannten, gibt es in Deutschland noch keine einzige Synagoge, die nicht täglich bedroht wird und von der Polizei beschützt werden muss.