Endlich eine eigene Toilette

Was eine eigene Wohnung bedeutet, berichten zwei Menschen, die obdachlos und wohnungslos waren

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Datum:
7. Sep. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 36/2022 | Garnet Manecke

Im Rahmen des Housing-First-Projekts kaufen der SKM Rheydt und die Caritas Mönchengladbach Wohnungen an, die sie dann an Obdach- und Wohnungslose vermieten. Wer zieht in diese Wohnungen ein? Was bedeutet das für die Menschen und was verändert sich dadurch für sie? Die KirchenZeitung hat zwei Klienten des SKM Rheydt besucht und nachgefragt.

 Max Mertens*, 37

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Früher ist Max Mertens auch schon vor sechs Uhr aufgestanden. Dann hat er seinen Schlafplatz aufgeräumt. An den Wochenenden hat er oft den Müll von Jugendlichen weggeräumt, die in der Nähe seines Schlafplatzes Partys gefeiert hatten. „Der Müll wäre ja auf den Obdachlosen zurückgefallen“, sagt der 37-Jährige. Wenn die ersten Kleingärtner in die Anlage kamen, in der er übernachtet hat, war sein Schlafplatz auf der Terrasse des Vereinsheims tiptop sauber. „Alles, was ich hatte, passte in einen Rucksack, den ich in einem Gebüsch an einem Sportplatz versteckt hatte“, sagt Max Mertens. 
Seit September 2021 kann er seinen Rucksack offen liegen lassen: im Flur oder im Wohnzimmer. Wenn er möchte, auch in der Küche oder im Bad. Denn seit einem Jahr hat Mertens eine eigene Wohnung durch das Housing-First-Programm. Der SKM Rheydt, der Katholische Verein für soziale Dienste, ist sein Vermieter.

„Das Wichtigste an der eigenen Wohnung war für mich, eine Toilette zu haben, die ich jederzeit benutzen kann“, sagt Mertens. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig eine Toilette ist.“ Um eine in der  Nähe zu haben, hat er sich viel an einem Friedhof in Rheydt aufgehalten. „Der hatte die einzige öffentliche Toilette in der Stadt“, sagt er. Die Tage verbrachte Mertens vorzugsweise in der Stadtbibliothek: Im Sommer war es dort kühl, im Winter warm. Dazu trocken und sauber.

Keinem in seinem Familien- und Bekanntenkreis ist aufgefallen, dass er obdachlos ist. Dabei hat sein Leben so an-gefangen, wie in vielen Familien der Mittelschicht. Er wuchs mit einer Schwester auf. Die Eltern trennten sich, aus der Durchschnittsfamilie wurde eine Patchwork-Familie. Heute hat Max Mertens noch sechs Stiefgeschwister.
Nach dem Abitur begann er Informatik zu studieren, aber das war nichts für ihn. „Das wusste ich schon nach dem zweiten  oder dritten Semester“, sagt Mertens. Er ging nicht mehr zur Uni. Seinen Eltern sagt er nichts. Weil sein Sohn auch nach 13 Semestern nicht vorankam, strich der Vater den Unterhalt. „Damit konnte ich die Miete nicht mehr bezahlen“, sagt Mertens. Er stand auf der Straße. Ein Selbstmordversuch klappte nicht.

Weil seine Oma immer öfter Hilfe im Alltag brauchte, zog Mertens zu ihr. Zuerst stellt er nur seine Sachen bei ihr unter und lebte auf der Straße. Dann zog er ganz zu ihr. Vier Jahre lebte er bei seiner Großmutter, die ihn mit Taschengeld und Essen versorgte. Dafür half der Enkel in Haus und Garten. Als die Oma starb, stand Mertens endgültig vor dem Nichts. Das Haus wurde verkauft, Mertens wurde obdachlos.
Dass niemand in der Familie etwas bemerkt hat, erklärt er sich so: „Man muss gar nichts sagen. Die meisten Menschen haben eine Erklärung für sich parat. Wenn man die nicht entkräftet, stellt sich die Frage gar nicht, dass sie etwas über die wirkliche Situation erfahren.“

Ohne das Housing-First-Programm hätte Mertens keine Chance auf eine Wohnung gehabt. „Ich habe mich bei 200 Wohnungen beworben“, sagt er. Jetzt will er sich seiner Zukunft widmen: Er würde gerne Soziale Arbeit studieren oder ins Hanf-Geschäft einsteigen, sobald Marihuana legalisiert wird. So oder so: Der Abbau seiner Schulden steht ganz oben auf seiner Aufgaben-Liste.
*Name von der Redaktion geändert  

Aise Memet, 30

Früher hat Aise Memet oft gesagt, sie könne nicht alleine leben. Jetzt weiß sie: „Ich kann es doch.“ Sie hat keine Angst mehr vor dem Alleinsein. (c) Garnet Manecke
Früher hat Aise Memet oft gesagt, sie könne nicht alleine leben. Jetzt weiß sie: „Ich kann es doch.“ Sie hat keine Angst mehr vor dem Alleinsein.

Sie braucht nicht lange zu überlegen, ob sie sich fotografieren lässt: „Ich verstecke mich nicht mehr“, sagt Aise Memet. Lange genug hat die 30-Jährige in einer toxischen Beziehung gelebt. Hat sich von ihrem Partner kontrollieren und isolieren lassen. War physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Alles nur, weil sie keine Ausbildung und keine eigene Wohnung hatte. Sie hat zwar gearbeitet, aber trotzdem kein Geld verdient im Familienbetrieb. Das ist jetzt vorbei.

„Ich habe eine Ausbildung zur Verkäuferin gemacht“, sagt sie. Gerade hat sie die Abschlussprüfung für die zweijährige Ausbildung bestanden und eine neue Stelle angetreten. Sie möchte noch die Prüfung zur Einzelhandelskauffrau machen. Das wäre nochmals ein Jahr Ausbildung. Dann ist sie breiter aufgestellt und kann mehr Geld verdienen. Das bedeutet Unabhängigkeit. „Nie wieder will ich von einem Mann abhängig sein“, sagt Aise. Die neue Wohnung ist ihre Chance und sie ist entschlossen, sie zu nutzen.
Als Teenager von 13 oder 14 Jahren ist Aise Memet aus ihrem Elternhaus ausgerissen und hat eine Zeit auf der Straße gelebt. „Ich habe unter Brücken und in Abrissautos geschlafen“, erzählt sie. Als sie ihren ersten Freund kennenlernte, ist sie zu ihm gezogen. Die Beziehung war von Gewalt geprägt, so wie zwei weitere Beziehungen später auch. „Ich habe das gelebt, was ich von zu Hause kannte“, sagt Aise Memet. Ihre letzte Beziehung hat sechs Jahre gedauert, fünf Jahre davon hat sie bei dem Mann gelebt. „Immer wieder habe ich meine Sachen gepackt und bin für ein paar Tage in mein Elternhaus gegangen“, berichtet sie. „Aber dann bin ich wieder zurück.“

Aise Memet sei nicht an die Hilfesysteme angebunden und von ihrem Partner finanziell abhängig gewesen, sagt Astrid Thiess, Sozialarbeiterin beim SKM. Auch krankenversichert sei die 30-Jährige in der Zeit nicht gewesen. „Sie war komplett unsichtbar“, sagt Thiess. Im vergangenen Jahr hat sich Aise Memet entshlossen, nicht mehr unsichtbar zu sein. Dass sie sich an die Beratungsstelle des SKM Rheydt, dem Katholischen Verein für soziale Dienste, gewandt hat, war der erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben.

Seit Oktober 2021 hat Aise Memet eine eigene Wohnung. Weil ihr Ex-Partner sie in ihrer ersten Wohnung aufgespürt hat und übergriffig wurde, ist sie nochmals umgezogen. Die Wohnung vermietet der SKM Rheydt an sie im Rahmen des Housing-First-Programms. Für Aise Memet war das der Startschuss, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Auch wenn das gerade mit Schulden beginnt, weil die Krankenkasse nicht gezahlte Beiträge aus den vergangenen Jahren fordert – obwohl sie gar nicht versichert war. Aber in Deutschland ist die Krankenversicherung eine Pflichtversicherung.

Wenn Aise an das Gefühl denkt, als sie zum ersten Mal ihre eigene Wohung betrat, dann muss sie lachen. „Das war ein wunderbares Gefühl“, sagt sie. Wenn sie jetzt nach Hause kommt, dann sind die Möbel ihre, sie kann sich einrichten, wie es ihrem Geschmack entspricht, und das Wichtigste: Es gibt keinen Streit, keine Gewalt. Nur das Maunzen ihrer Katze. „Ich möchte gerne im Park joggen gehen und mir einen Freundeskreis aufbauen“, sagt sie. Ihr früherer Partner hat sie isoliert. Jetzt ist sie frei, und die Wohnung ist das Nest, von dem aus sie ihre Flügel ausbreitet und fliegt.