Einfach abhaken geht nicht

Neujahrsumfrage der KirchenZeitung zu drei Themen, die 2020 wichtig waren und 2021 wichtig bleiben

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Datum:
5. Jan. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 01/2021 | Thomas Hohenschue

Das Jahr 2020 ist Geschichte. Viele möchten dieses Jahr einfach abhaken. Bloß weg vom lähmenden Geschehen der Pandemie, bloß weg von den erschreckenden Erkenntnissen rund um sexualisierte Gewalt in der Kirche. Bloß weg von den erstarrten Konfliktlinien in der Debatte um die Zukunft der katholischen Kirche. Aber geht das so einfach? Haken dran und weg? Sicher nicht – schon alleine, weil alle drei Themen auch 2021 eine gewichtige Rolle spielen werden.

Mit einer Predigt im Dom stieß der Aachener Bischof Helmut Dieser Silvester 2017 den Bistumsprozess „Heute bei dir“ an. Drei Jahre später biegt das Vorhaben allmählich in die Zielgerade ein. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Mit einer Predigt im Dom stieß der Aachener Bischof Helmut Dieser Silvester 2017 den Bistumsprozess „Heute bei dir“ an. Drei Jahre später biegt das Vorhaben allmählich in die Zielgerade ein.

Deshalb gilt es eben gerade nicht, vorschnell das Kapitel zuzuschlagen, sondern genau hinzuschauen: Was können wir aus dem Geschehen im Krisenjahr 2020 lernen, was stimmt uns zuversichtlich, was erwarten wir von Kirche und Christen? In ihrer Neujahrsumfrage hat die KirchenZeitung sich bei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus dem Leben des Bistums Aachen umgehört, wie sie in das gerade angebrochene neue Jahr gehen.


>> Die Bewältigung der Coronakrise durch die Kirche

Vorrangig bleibt uns von 2020 die gesamtgesellschaftliche Herausforderung durch die Pandemie in Erinnerung. Was sagen uns die Erfahrungen des vergangenen Jahres für die Zukunft? Der neue Direktor des Diözesancaritasverbandes, Stephan Jentgens, bringt die Aufgabe auf den Punkt: „Wenn es stimmt, dass in der Corona-Pandemie die Stärken und Schwächen von Bewegungen wie in einem Brennglas erscheinen, dann sollte die Kirche in einer guten Analyse daraus lernen und auch neue Wege des Volkes Gottes ausprobieren.“
Eine Analyse beginnt mit dem Beobachten dessen, was geschehen und was nicht geschehen ist. Schon hier trennen sich zum Teil die Wege bei den Befragten, ihre Wahrnehmung unterscheidet sich, entlang ihres Blickwinkels und ihrer Prioritäten. Elisabeth Laumanns, als ehrenamtliche Katholikenrätin Mitglied im Regionalteam Mönchengladbach, steuert eine präzise Beschreibung bei, was sich konkret vor Ort ereignete.

„Mein erster Eindruck zu Beginn der Coronakrise war, dass einige Pfarreien erst einmal wie gelähmt waren und keiner so recht wusste, wie man handeln sollte. Aber bald zeigte sich, dass es viele kreative Ideen gab, um mit der neuen Situation umzugehen. Auf einmal war Kirche ganz anders möglich, es gab ein breites Internetangebot mit Gottesdienstvorlagen, Meditationen und Liveübertragungen von Gottesdiensten aus der eigenen GdG. Viele Menschen waren bereit, sich neu einzubringen, sei es durch Gabenzäune, Einkaufsdienste, Ordnertätigkeiten, Tagesimpulse und telefonisches Kümmern. Gerade auf caritativer Ebene wurde sehr viel geleistet, um den Menschen in Not beizustehen.“

Auch Rolf-Peter Cremer, Aachener Dompropst und stellvertretender Generalvikar, würdigt die solidarischen Initiativen. „Ich habe gespürt, wie wichtig es ist, dass die Kirche sich mit ihren Angeboten gerade in der ersten Phase in ein gesellschaftliches Miteinander gestellt hat. Es war gut zu spüren, dass wir gemeinsam mit anderen Einrichtungen und Gruppen Kräfte bündeln konnten in Angeboten für die Menschen. Dadurch wurden wir innerlich angefragt, wie stark unser diakonischer Auftrag wirklich getragen ist.“

Nicht wenige Befragte bedauern, dass dieser Teil der Wegbegleitung von Menschen durch die Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung untergeordnet zur Geltung kam. Beispielhaft resümiert Gemeindereferent Mario Hellebrandt, „dass eine scheinbar vorrangige Sorge – vor allem vieler Priester – der Eucharistiefeier galt und wichtige andere pastorale Bereiche vielerorts schnell aus dem Blick gerieten“. Karl Weber, Vorsitzender des Diözesanrats der Katholiken, formuliert seine Kritik pointiert: „Man kann das Virus nicht wegbeten! Die Fixierung auf die heilige Messe war nicht hilfreich, existenzielle Erfahrungen gibt es in Altenheimen, beim einsamen Sterben in Krankenhäusern und bei Angehörigen, bei der Vereinsamung von Menschen, die mit ihrer Situation überfordert sind oder die vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht sind.“

Pfarrer Guido Rodheudt hingegen lenkt bewusst den Blick auf die Kraft von Gebet und Gottesdienst: „Ich habe als Kehrseite mancher Ernüchterungen den starken Glauben vieler Gläubigen von den Kindern bis zu hochbetragten Menschen erlebt. Die Kirche lebt eben in den Seelen und nicht in Pressekonferenzen und in Diskussionsforen. Das Ave Maria, in dem wir bei jeder Wiederholung um Fürsprache in der Stunde unseres Todes beten, ist das Gebet der Stunde. Wer den Rosenkranz verinnerlicht und praktiziert, hat eine wesentliche Panikprävention schon geleistet. Ich konnte vor Ort die Nagelprobe machen.“ Rodheudt schließt an: „Ich erwarte mehr Gottvertrauen und mehr Frömmigkeit angesichts der Läuterungen, durch die wir gehen. Eigentlich sollte jeder ein intensiveres Gebetsleben entfalten derzeit, statt Gottesdienste zu umgehen, an deren Stelle in der Regel nichts anderes tritt.“

Schwester Jordana Schmidt, Dominikanerin von Bethanien, hat im vergangenen Jahr gelernt, „dass wir uns schnell Dinge abgewöhnen, wenn sie nicht da sind, wie zum Beispiel den Sonntagsgottesdienst, und dass meine eigene Kreativität und Spiritualität gefragt sind, wenn ich meinen Glauben lebendig halten möchte“. Diesen Wechsel der Haltung, „weg von der Konsumentin, hin zur Akteurin“, begrüßt sie und würdigt, „dass es unglaublich kreative, engagierte Laien gibt, die verstanden haben, was die Menschen brauchen, und aktiv werden – jenseits altbewährter Wege.“ Das ist auch die Beobachtung von Pastoralreferentin Miriam Daxberger: „Es gibt immer einen Weg. Es erfordert Mut, die Kirchentüren zu öffnen und zu vertrauen, digitale Formate zu starten, ohne alles zu kennen – einen Fuß vor den anderen zu setzen und so einen Weg zu gehen, ein Ziel zu ahnen.“ 

Die Braunsrather Äbtissin M. Theresia Hegermann OSC würdigt dies auch und sagt: „Wir als Konvent sind zuversichtlich, dass durch die Veränderungen durch die momentane Situation auch ein Veränderungsprozess in der Kirche nicht mehr aufzuhalten ist.“ Der Aachener Regionalvikar Frank Hendriks spricht sich explizit dafür aus: „Ganz viele Formen, den Menschen in der aktuellen Situation nahe zu sein, sind ausprobiert und weiterentwickelt worden. Ich hoffe sehr, dass uns das als Lerngewinn für anstehende strukturelle Veränderungen erhalten bleibt.“‘ Ihm machen die Erfahrungen in der Coronakrise Mut für den weiteren Verlauf von „Heute bei dir“: „Ich habe während der Pandemie so viel Verantwortung, Solidarität und Selbstlosigkeit erlebt, dass mich das auch für den Bistumsprozess zuversichtlich stimmt.“


>> Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirche

Zunächst einmal würdigen viele Befragte, was 2020 mit Blick auf die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirche im Bistum Aachen geschehen ist. „Hier sind wichtige Schritte gemacht worden, die in anderen Bistümern noch ausstehen“, bilanziert zum Beispiel Mario Hellebrandt. Schwester Jordana Schmidt zieht Zuversicht daraus, „dass es endlich ein Thema ist und dass es kein Zurück mehr geben wird in alte Strukturen“.

Aber genauer hingeschaut löst das Thema naturgegeben wenig positive Gefühle aus, beim Blick auf die Gesamtlage der deutschen Kirche erst recht. Akademiedirektorin Christiane Bongartz fasst die Erkenntnisse zusammen: „Die Durchdringung der kirchlichen Strukturen und die Mitwisserschaft und Vertuschung sind noch größer als gedacht und erst langsam wird das ganze Ausmaß offenbar.“ Pastoralreferentin Annette Jantzen hat im vergangenen Jahr gelernt, „wie schmerzhaft Aufarbeitung im Nahbereich ist. Theoretisch haben wir das alles gewusst. Jetzt bekommen die Gewalt und ihre Vertuschung, bekommt die Missachtung der Opfer Namen und Gesichter, geschätzte Namen und bekannte Gesichter, und das tut weh. Ich habe außerdem gelernt, dass Vergebung ein Begriff ist, mit dem man sehr vorsichtig umgehen muss.“ 

Pastoralreferent Achim Hoeps weitet den Blick: „Es ist schwer zu entdecken, dass es auch Fragen an mein eigenes Denken und Verhalten gibt, etwa nach einer ungenügend kritischen Loyalität zur institutionellen Kirche oder mangelnder Einsicht in die Priorität der Opferperspektive.“ Rolf-Peter Cremer hat 2020 gelernt, „wie wenig wir gelernt haben nach 2010 und der MHG-Studie. Und dass es mit dem Blick, den Opfern den ihnen gebührenden Raum zu ermöglichen, auch wichtig ist, die strukturellen Fragen von Macht, von Sexualität und deren Umgang in der Kirche und der Rolle der Frauen anzugehen, wie es zumindest im Synodalen Weg versucht wird.“ Er erwartet von der Kirche „Demut, Ehrlichkeit, den weiteren Aufbau der Prävention und die Weiterarbeit an einem konsequenten Umsetzungsplan“. 

Schwester M. Theresia Hegermann skizzziert: „Die Stimmung ist aufgeheizt, ein klarer Blick ist aber unbedingt notwendig. Ich erwarte mehr Sachlichkeit und Objektivität und vor allem Öffentlichkeitsarbeit, die der Sache dient und nicht noch Öl ins Feuer gießt.“ Miriam Daxberger hofft auf die Kraft der „unermüdlichen Kritiker“: „Für mich ist Kritik keine Nörgelei, sondern eine ernstzunehmende Sorge.“ Auch Katholikenrätin Gabi Terhorst, Regionalteam Kempen-Viersen, sagt: „Ein Anfang ist gemacht. Wichtig erscheint mir, dass wir nicht locker lassen.“ 

Karl Weber zieht aus dem bisherigen Verlauf eine klare Konsequenz: „Es wird immer deutlicher, dass Kirche mit der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt insgesamt überfordert ist.“ Er plädiert für gesetzliche Standards und staatliche Aufsicht. Frank Hendriks möchte eine „Leitvorstellung, die sich nicht in Einzelmaßnahmen erschöpft, sondern auf eine Kultur der Partizipation und der Mitverantwortung setzt“. Christiane Bongartz wünscht sich „eine Revolution, die mehr ist als ein bloßer Kulturwandel, durch die Transparenz und Übernahme von Verantwortung sowie neue Bilder und eine neue Theologie zum Tragen kommen“.

Guido Rodheudt findet es „wünschenswert, wenn im Umfeld des Themas eine geistlich-moralische Erneuerung die Kirche erreichte. Das geht aber nicht allein durch Bedauern, sondern durch das Umgraben des Bodens, auf dem die Entgleisungen geschehen. Da hat die Kirche unserer Tage einen großen Nachholbedarf, weil sie sich schon viel zu lange nicht mehr mit den Fundamenten des Glaubens und der Moral beschäftigt beziehungsweise schon vor langer Zeit in die Falle subjektiver Beliebigkeit getappt ist.“


>> Fortgang des Bistumsprozesses „Heute bei dir“

Die Rückmeldung der Befragten ist einmütig: Die Pandemie hat den Prozess in den Hintergrund treten lassen. Mancher sieht eine notwendige Entschleunigung, andere eine Chance zu lernen. Zugleich wird beobachtet: Die Arbeit an „Heute bei dir“ geht weiter. „Es ist etwas in Bewegung“, sagt Gabi Terhorst. Miriam Daxberger würdigt „inspirierende und inspirierte Haupt- und Ehrenamtliche“, welche die Ärmel hochkrempeln. Rolf-Peter Cremer findet gut, dass nun auch bestehende Strukturen und Zuständigkeiten eine Rolle im Prozess spielen. 

Elisabeth Laumanns bewundert „die Menschen, die in den Basis-AGs zahlreiche Überlegungen anstellen, wie man Kirche zukunftsfähig machen könnte. Sie machen dies mit großem Engagement und wollen für uns alle eine lebenswerte Kirche schaffen, in der die Botschaft des Evangeliums im Mittelpunkt stehen soll.“ Dass überhaupt viele Christen angeregt werden, über Kirche nachzudenken und zu sprechen, und darüber Kirche sind und leben, begrüßt Achim Hoeps. 

Eine Stoßrichtung ist dabei Guido Rodheudt wichtig: „Von den Christen, die der Herr mit Seinem Blut erkauft hat und sie durch die Taufe zu Gliedern seines Leibes gemacht hat, erwarte ich, dass sie sich darüber Gedanken machen, was das konkret bedeutet. Allerdings mit dem Blick auf die Lehre und Tradition, aus der die Kirche lebt, und nicht nach dem Strickmuster moderner Unternehmensberatung, deren Ratschläge nicht von der Wahrheit, sondern vom Marktwert bestimmt sind.“ Der Fokus weiterer Befragter liegt darauf, „dass die Integration von Bewährtem und Neuem wertschätzend gelingt“, wie Stephan Jentgens sagt. So sollten auch die treuen Ehrenamtlichen bei Veränderungen gehört werden, findet Schwester M. Theresia Hegermann.

„Es wird Zeit, dass der Prozess zu Ende kommt“, sagt Karl Weber. Frank Hendriks erwartet neues Leben, wenn es um die Strukturen geht. Annette Jantzen hofft auf „Mut und gegenwartstaugliche Prioritäten“, Christiane Bongartz auf „Verständigung über ein klares diakonisches und prophetisches Profil der Kirche“. Ein Punkt ist Mario Hellebrandt wichtig: dass die Ergebnisse dialogisch, ohne Zeitdruck, im breiten Konsens erzielt werden.