Eine menschenwürdige Pflege

Sonja Manca, Pflegerin im Seniorenheim Paulus-Stift, und der Widerspruch von Anspruch und Wirklicheit

Für Sonja Manca ist die Arbeit im Seniorenheim Paulus-Stift eine Herzensangelegenheit. Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen in der Pflege würde sie ihren Job nie eintauschen. (c) Ann-Katrin Roscheck
Für Sonja Manca ist die Arbeit im Seniorenheim Paulus-Stift eine Herzensangelegenheit. Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen in der Pflege würde sie ihren Job nie eintauschen.
Datum:
16. Nov. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 46/2021 | Ann-Katrin Roscheck

Es ist fast wie ein Spiel mit dem Feuer, wenn Sonja Manca morgens ihre Schicht im Seniorenheim Paulus-Stift im Haus der Caritas in Viersen anfängt: Läuft ihr Rundgang gut und sind alle Bewohner wohlauf, hat sie anschließend Zeit, sich im persönlichen Kontakt mit ihnen zu beschäftigen. 

Entdeckt sie aber auch nur eine stecknadelgroße rote Stelle am Steißbein eines Senioren, gelangt der eng getaktete Plan schnell ins Wanken, und Manca kommt zeitlich in Bedrängnis. Für den restlichen Tagesablauf bedeutet das Folgendes: „Für mich beginnt dann ein großer Dokumentations- und Abstimmungsprozess. Ich muss die rote Stelle fotografieren, sie in einem Bericht beschreiben, den Arzt anrufen – bei dem wir übrigens genauso schlecht durchkommen wie ein klassischer Patient – und vielleicht auch die Wunde verbinden“, erklärt sie. „Es bleibt auch keine Zeit, dem betroffenen Patienten die Angst vor zum Beispiel einem Dekubitus zu nehmen, und auch die Pflege der anderen Bewohner schiebe ich dadurch nach hinten.“

Das wiederum kann dazu führen, dass anschließend Beschwerdeanrufe von Angehörigen eingehen, die wiederum beantwortet werden müssen. Der Zeitraum für die aktive Beschäftigung mit den Bewohnern, das, was den Pflegeberuf eigentlich ausmacht, schrumpft dadurch immer mehr zusammen.

„Die Klientel in der Pflege hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Heute sind die Bewohner meistens multimorbide und brauchen eine intensivere Versorgung “, erklärt Peter Babinetz als Vorstand des Caritasverbands für die Region Kempen-Viersen. „Seit Einführung der Pflegeversicherung in den 90er Jahren aber hat sich der Personalschlüssel fast nicht verändert. Das passt einfach nicht zusammen.“

Auch Sonja Manca kennt die Epoche vor der Einführung der Pflegeversicherung. Sie absolvierte vor 25 Jahren die Ausbildung zur examinierten Krankenpflegehelferin und arbeitete in der Folge in der häuslichen Pflege, in der Tagespflege und anschließend in der stationären Seniorenhilfe. Erst vor Kurzem holte sie die Ausbildung zur Altenpflegerin nach. „Wir hatten früher einfach viel mehr Zeit für die Bewohner und viel weniger Druck“, erinnert sie sich. „Es ist so wichtig, Gespräche zu führen, gemeinsam zu lachen oder auch einfach mal Zeit zu haben, jemanden in den Arm zu nehmen.“

Babinetz würde sich den Hilferufen seiner Mitarbeitenden am liebsten lautstark anschließen. Er ist inzwischen richtig wütend über das Dilemma, in das die Politik die Caritas seit Jahren treibt: Mit christlichem Leitbild steht der Träger zum Beispiel für Werte wie Menschenwürde. Als Träger von diversen Pflegeeinrichtungen ist die Caritas aber auch gleichzeitig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen abhängig. „Natürlich sehen wir die Nöte unseres Personals und würden gerne für mehr Unterstützung sorgen, aber es ist niemand da, der dafür die Kosten trägt“, sagt Babinetz.

Zwar gebe es mit der vor der Bundestagswahl noch schnell beschlossenen Pflegereform bereits erste Lichtblicke, ausreichend seien diese aber nicht, so ist sich der Vorstand sicher. Aus dem Stückwerk kleinerer „Reförmchen“ müsse endlich eine nachhaltige Novellierung des Pflegesystems erfolgen. Auch Sonja Manca wünscht sich Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen für sich und ihre Kollegen im Paulus-Stift. Bis diese kommen, kämpfe sie an vorderster Front weiter, erklärt sie: „Für mich ist am Ende genau wie für viele meiner Kollegen am wichtigsten, dass es den Bewohnern hier gut geht.“

Nachgefragt: Die Wünsche der Caritas-Vertreter in den Regionen Krefeld und Kempen-Viersen

Peter Babinetz (c) Ann-Katrin Roscheck
Peter Babinetz

"Wichtig ist, dass eine nachhaltige Pflegereform das Gesamtsystem der Pflege in den Blick nimmt. Dazu gehört – nicht nur, aber eben auch – die Finanzierung der Pflege. Wir als Arbeitgeber können alleine das Berufsbild der Pflege nicht verändern, sondern haben durch die vorgegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen nur einen sehr begrenzten Spielraum. Schon vor zehn Jahren hat die Pflege um Hilfe gerufen, und bisher ist noch nicht genug geschehen. Das muss sich ändern.“


Peter Babinetz, Vorstand des Caritasverbands für die Region Kempen-Viersen

Stefan Lua (c) Ann-Katrin Roscheck
Stefan Lua

"Die Pflege muss mit mehr Personal ausgestattet werden. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass wir ausschließlich Fachkräfte benötigen, sondern auch Mitarbeitende aus anderen Bereichen hülfen, die Pflegenden im Alltagsgeschäft zu entlasten. Ich wünsche mir im stationären Bereich mehr Reinigungskräfte, mehr Haustechniker oder auch administratives Personal, das den Pflegenden mehr Zeit für die menschliche Betreuung ermöglicht. Denn sie alle sind für eine Pflege in Menschenwürde und nicht nur für eine Bedarfsversorgung angetreten.“

Stefan Lua, Bereichsleiter „Alter und Pflege – Stationäre Einrichtungen“ des Caritasverbands für die Region Kempen-Viersen 

Jana Huhn (c) Ann-Katrin Roscheck
Jana Huhn

"Wir, all die Pflegekräfte da draußen, müssen öffentlich erzählen, wie viele Vorteile dieser Beruf hat, wie viele schöne Momente er bereithält und wie viele interessante Menschen und Leben wir dadurch kennenlernen dürfen. Pflege braucht eine neue Darstellung in der Öffentlichkeit. Dafür können wir als Pflegekräfte sorgen. Es wäre aber auch schön, wenn uns andere dabei unterstützten: Warum kann Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel nicht ein Teil der Ausbildung sein?“

Jana Huhn, Teamleitung somatischer Bereich, Caritas-Pflegestation Stadtmitte/Hüls
 

"Ich wünsche mir, dass die fortschreitende Digitalisierung endlich auch zu einer spürbaren Entbürokratisierung in der ambulanten Pflege führt, damit wir die dadurch gewonnenen Zeitfenster nutzen können, um unsere Mitarbeiter zu stärken. Eine einheitliche Bezahlung – stationär und ambulant – setzte außerdem ein Zeichen der Anerkennung für die ambulante Pflege. Ambulante Mitarbeitende benötigen ein hohes fachliches Knowhow, um Kunden und deren Zugehörigen Leben und Sterben in ihrem eigenen Zuhause zu ermöglichen. Dieses Bewusstsein sollte ganzheitlich verstärkt werden.“


Verena Daus, Bereichsleitung „Alter und Pflege – Ambulante und teilstationäre Hilfen“ des Caritasverbands für die Region Kempen-Viersen

Joachim Jansen (c) Ann-Katrin Roscheck
Joachim Jansen

"Auch in der Pflege haben junge Menschen Karrierechancen. Von der Fachkraft bis zur Führungskraft geht bei uns problemlos – selbst als Quereinsteiger. Dieser Fakt wird im öffentlichen Diskurs aber oft nicht thematisiert. Ich wünsche mir, dass wir aus der Pflege selbst mehr Werbung für unseren Beruf machen, damit auch mehr Unbeteiligte wirklich verstehen, was unseren Beruf so schön und außergewöhnlich macht. Wir sind nicht nur Pflegekraft, sondern erfüllen, egal ob im Krankenhaus, im Altenheim oder im ambulanten Dienst, mehrere Rollen: zum Beispiel die des Seelsor- gers, des Psychologen, des Freundes, des Beraters, des Trösters oder des Familienangehörigen. Das macht Karriere auch in unserem Beruf total spannend.“


Joachim Jansen, Ausbildungskoordinator, Mitglied der MAV, Caritas-Pflegestation Stadtmitte/Hüls