Eine Vorstadtikone stellt sich vor

Studierende des Lehrstuhls Architekturgeschichte der RWTH haben sich mit St. Hubertus in Aachen-Hanbruch beschäftigt

(c) Andrea Thomas
Datum:
13. Juli 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 28/2022 | Andrea Thomas

Von den meisten Aachenern wird sie wegen ihrer markanten äußeren Form liebevoll-scherzhaft „Backenzahn“ genannt, die Kirche St. Hubertus in Aachen-Hanbruch. Unterstützt von ihren Dozentinnen hat sich eine Gruppe aus neun Architektur-Studierenden der RWTH Aachen intensiv mit ihrer Baugeschichte auseinandergesetzt. Ergebnis ist eine Ausstellung in und über St. Hubertus.

Blick ins Hochschiff mit Altar (Mitte) und Tabernakel (rechts). (c) Andrea Thomas
Blick ins Hochschiff mit Altar (Mitte) und Tabernakel (rechts).

Entworfen und gebaut hat die 1964 fertiggestellte Kirche Gottfried Böhm, Pritzker-Preisträger (der „Nobelpreis für Architekten“) und einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit. Böhm war zur Zeit der Entstehung von St. Hubertus Professor an der RWTH Aachen und leitete von 1963 bis 1985 den dortigen Lehrstuhl für Werklehre und Stadtbereichsplanung. Geplant als Viertelentreé, sollte die Kirche Menschen zusammenbringen. „Ich verstehe Gottfried Böhm als jemanden, der mit seinen Entwürfen Gemeinschaft schafft“, sagt Anke Naujokat, Leiterin des Lehrstuhls für Architekturgeschichte an der RWTH. Das komme auch in St. Hubertus zum Ausdruck. 
Zwei Semester hat der Lehrstuhl dieser „Vorstadtikone“ in Form eines kombinierten Entwurfs- sowie Lehrforschungs- und Ausstellungsprojekts gewidmet. Eine spannende Aufgabe, der sich die neun Studierenden, unterstützt von ihren Dozentinnen und Leiterinnen des Projektes, Caroline Helmenstein und Verena Hake, mit viel Kreativität und Begeisterung gestellt haben.

„Eine Architekturhistorikerin interessiert die Baugeschichte, eine Architektin Zukunft und Fortwirkung“, erläutert Verena Hake. Deshalb hätten sie sich in einem ersten Projektteil mit einer – vorerst fiktiven – alternativen Nutzung für den Kirchenbau und dessen Insula beschäftigt. Aufgabe sei es gewesen, das räumliche und funktionale Potenzial des ehemals schieferbekleideten „Felsens aus Beton“ neu auszuloten und überzeugende Visionen zu entwickeln, St. Hubertus wieder zu einem lebendigen Anziehungspunkt werden zu lassen. Nach Böhms ursprünglicher Idee sollte die Kirche Teil eines neu zu schaffenden Gemeindezentrums und Teil eines baulichen Ensembles sein. Diese Idee galt es in die Gegenwart zu übertragen.

Das Ergebnis sind fünf Entwürfe, die das denkmalgeschützte Kirchengebäude neu denken und baulich ergänzen. Da gibt es das Kunst- und Kulturzentrum mit Café, Ateliers und Kreativwerkstätten, in dem die Kirche zum multifunktionalen Veranstaltungsort wird. „Erntedank“ stellt den Anbau von Obst und Gemüse, die gemeinschaftliche Zubereitung und den Verzehr in dafür neu entstehenden Gebäuden rund um die Kirche in den Mittelpunkt. Es gibt Ideen zur Schaffung von Freizeitangeboten, wie einer Musik- und Tanzschule, Cafés und Nahversorgungsangeboten sowie der Verbindung von Arbeiten und Leben rund um den Kirchenbau. Alle Entwürfe stellen die Kirche in die Mitte und entwickeln um sie herum einen Ort lebendigen Miteinanders. Fester Bestandteil ist immer auch ein Raum für die Kirchengemeinde und zur Feier von Gottesdiensten.

Einblick in Böhms Architektursprache

In ihren  Entwürfen für eine fiktive  neue Nutzung  greifen die Studierenden die Idee des Ensembles wieder auf. (c) Andrea Thomas
In ihren Entwürfen für eine fiktive neue Nutzung greifen die Studierenden die Idee des Ensembles wieder auf.

Der zweite Projektteil ist eine Ausstellung unter dem Titel „Vorstadtikone“ über die Kirche in der Kirche, die die Studierenden eigenständig entwickelt und umgesetzt haben. Damit wollen sie den Menschen aus dem Viertel und allen Interessierten Einblicke in Gottfried Böhms Architektursprache geben, sie dieses außergewöhnliche Bauwerk von außen und innen besser verstehen lassen.

Rund um die Kirche gibt es markierte Punkte, von denen aus sich dem Betrachter die unterschiedlichen Perspektiven auf das Gebäude mit dem es überdachenden Faltwerk eröffnen. Dabei wird auch deutlich, warum die Aachener der Kirche den Spitznamen „Backenzahn“ gegeben haben. Ursprünglich war die Kirche nicht als der Solitärbau geplant, als der sie nun das Gelände dominiert. Böhm hatte hier ein Ensemble mit mehreren pfarrlichen Gebäuden einschließlich eines Glockenturms im Sinn gehabt, was so jedoch letzlich nicht realisiert wurde. Das beschert St. Hubertus eine ungewöhnliche Besonderheit: Sie ist eine Kirche ohne Glocke.

In der Kirche haben die Studierenden Stationen mit Informationstafeln zu einzelnenen Exponaten wie dem Tabernakel, dem Altar oder der Orgel und den einzelnen Gebäudeteilen (Vorhalle, Hochschiff, Chorraum, Seitenschiffe) konzipiert. Die Stationen informieren über Besonderheiten des Kirchenbaus und zeigen auf, wo Veränderungen zu den ursprünglichen Plänen Gottfried Böhms vorgenommen wurden. Ergänzend dazu führt die „Böhm-Pergola“ in Leben und Werk des renommierten Architekten ein und ordnet St. Hubertus ein in die Reihe seiner weiteren Sakralbauten, von denen die wohl bekanntesten St. Gertrud in Köln und die Wallfahrtskirche in Velbert-Neviges sind.

Auf der Orgelempore können sich Interessierte unter anderem die Videos von Interviews ansehen, die die Studierenden mit Paul Böhm, einem der Söhne Gottfried Böhms, sowie mit Gemeindemitgliedern geführt haben. Bei der Umsetzung war den Studierenden Nachhaltigkeit wichtig: Die verwendeten Materialien (überwiegend Second-Hand) für ihre Stationen sollen später wiederverwendet und verkauft werden. Der Erlös daraus sowie aus dem Verkauf von bedruckten Jutebeuteln mit stilisierter Darstellung des „Backenzahns“ soll dem Zentrum für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe „Maria im Tann“ zugute kommen. Aus der Gemeinde hätten sie viel Unterstützung erhalten, sowohl bei ihren Forschungen als auch bei der Öffnung der Kirche für die Ausstellung, bedanken sich die Initiatorinnen. Die wiederum hat sich gefreut, dass sich die Wissenschaftlerinnen und Studierenden ihrer Kirche zugewandt haben. In der freien Form war das Projekt eine Premiere für den Lehrstuhl, die jedoch fortgesetzt werden soll, wie Anke Naujokat erklärt. „Das Praktische hat den Studierenden gut getan und nicht nur in der Uni zu sein. Sie haben das sehr eigenständig und mit reichlich Ideen und Organisationsgeschick umgesetzt.“

Öffnungszeiten: 23. Juli, 6. und 20. August, 3. September (15–17 Uhr) sowie 
11. September (10–15 Uhr).