Zwölf engagierte Eltern und Freunde waren die Keimzelle der Lebenshilfe in Düren. 1963 gründete sich der Verein an der Rur; die Lebenshilfe Deutschland hatte ihre Arbeit bereits im Jahr 1958 begonnen. Die Teilhabe an Arbeit, die Ermöglichung sozialer Kontakte war das Anliegen der Eltern, die keine vergleichbaren Angebote für ihre Kinder fanden. Mittlerweile sieht dies ganz anders aus. Der gemeinnützige Verein hat sich beinahe zum „Full-Service“-Anbieter entwickelt.
Die Lebenshilfe betreibt im Kreis Düren unter anderem eine Frühberatungs- und Frühförderstelle, inklusive Kindertagesstätten, besondere Wohnformen und ist einer von zwei Trägern der gemeinnützigen Rurtalwerkstätten. Betreuung, Wohnen, Freizeitangebote und Urlaubsreisen, Unterstützung, Wissensvermittlung und Arbeit: Jeder Mensch mit Handicap kann die Unterstützung und Hilfe bekommen, die er braucht. Und das Angebot wächst weiter, es wächst mit den Leistungsberechtigten und ihren Anforderungen. Derzeit ist die Gründung eines ambulanten Pflegedienstes für Menschen mit Handicap geplant.
Was aus heutiger Sicht selbstverständlich klingt, war oft wegweisend. Die Lebenshilfe war nicht selten auf Neuland unterwegs. 1973 wurde die ambulante Frühförderstelle gegründet. „Die Frage, ob ich die Behinderung meines Kindes anerkennen kann, beginnt im Krankenhaus, mittlerweile weit vor der Geburt“, sagt Elke Wimmer, Fachreferentin Frühe Förderung und Bildung der Lebenshilfe. „Wir kämpfen auch heute noch dafür, dass es ganz normal ist, verschieden zu sein“, sagt sie. Zur Philosophie der Lebenshilfe Düren gehört seit über 60 Jahren, dass alle mit ihren Stärken und Schwächen zusammenleben können. „Über die Generationen hinweg hat sich der Umgang verändert. Heute ermöglichen wir schon im Kindesalter so viel Losgelöstheit und Selbstständigkeit wie möglich“, fügt Vorstand Michael Schulze hinzu. Welchen Beitrag die Lebenshilfe dabei leisten kann? – „Wir möchten Perspektiven und Möglichkeiten schaffen. Nicht nur Zuhause, sondern in der Gesellschaft“, betont Schulze.
Im Jahr 1974 werden in Düren erstmals geistig behinderte Kinder aus dem Landeskrankenhaus beschult, 1975 wird der Grundstein für die heutigen Rurtalwerkstätten gelegt, 1977 wird der Verein Mitträger eines Wohnheims und errichtet eine Wohnstätte für geistig behinderte Menschen. 1980 gründet die Lebenshilfe einen Fahrdienst für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, 1992 entsteht die erste Außenwohngruppe. „Unsere erste integrative Kita ist 1996 gestartet. Zu dieser Zeit gab es im Kreis Düren kein vergleichbares Angebot für Kinder mit Handicap. Seitdem ist es uns wichtig, ein Miteinander zu leben.“, blickt Elke Wimmer zurück.
Warum es sich lohnt, Meilensteine genauer zu betrachten? – Weil es stets ein weiter Weg bis zum 2019 verabschiedeten Bundesteilhabegesetz war, auf dem die Lebenshilfe die Klienten, die amtlich als Leistungsberechtigte bezeichnet werden, mitunter schon seit Jahrzehnten begleitet hatte. Barrieren abbauen und Assistenz ermöglichen – so lässt sich das Wirken zusammenfassen. Vom frühkindlichen Bereich über die Lebenshilfe-Kindertagesstätten über die Möglichkeiten einer Schulbegleitung bis hin zu Arbeit, Assistenz im Alltag und ganz unterschiedliche Wohnformen: „Wir sind bei Bedarf in jedem Lebensbereich ein Partner, stationär wie ambulant im häuslichen Kontext“, erklärt Michael Schulze.
Veränderungen gehören dabei zum Alltag. Beispiel Wohnformen. „Unsere Arbeit hat stets auch einen pädagogischen Auftrag“, erklärt Louise Papst, Fachreferentin Teilhabe und Bildung, Ambulant, Wohnen. Egal, ob die Leistungsberechtigten in der eigenen Häuslichkeit wohnen und von einer pädagogischen Kraft Unterstützung bekommen, sie Teil einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft sind, in der von außen jemand unterstützend hinzukommt, oder sie in einer stationären Wohnform leben: Alle sollen stets darin unterstützt werden, sich selbstständig zu entwickeln, Schritt für Schritt Aufgaben zu übernehmen, auch die Wohnformen Richtung mehr Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu wechseln.
Kurzum: Nicht Betreuung lautet der Auftrag, sondern Assistenz. „Mit dem jüngsten Gesetzeswandel 2020 haben diese Leistungen eine ganz besondere Bedeutung, wir gehen bewusst neue Wege, wollen den Grad der Selbstständigkeit erhöhen“, sagt Louise Papst. Was es für einen Träger bedeutet, im bestehenden Immobilienbestand neue Wohnformen zu etablieren, steht dabei auf einem anderen Blatt. „Wir sehen den pädagogischen Auftrag, wir wollen die Veränderung. In dieser Form ist sie aber gerade für freie Träger nicht ohne Risiko tragbar“, würde sich Michael Schulze über Unterstützung und Planungssicherheit freuen.
Vor einem Umbruch stehen auch die heilpädagogischen Kitas. „Was bedeutet es, ein Kind mit Teilhabebedarf zu sein? Wie kann jedem Kind Teilhabe ermöglicht werden? Wie kann sich die Kita-Landschaft so verändern, dass alle Kinder zurechtkommen?“ – unter anderem diese Fragen stellt sich derzeit Elke Wimmer. Denn heilpädagogische Gruppen mit erhöhtem Förderbedarf sollen bis 2029 abgeschafft werden. Dort können Kinder aktuell in Kleinstgruppen bis zu 8 Kindern in einem heilpädagogischen Rahmen betreut und gefördert werden. „Kinder, die jetzt einen geschützten Rahmen haben, könnten in großen Gruppen untergehen“, befürchtet Elke Wimmer. Die Lebenshilfe mit ihren Kitas und ihrer Expertise möchte sich so aufstellen, dass sie nach 2029 Schwerpunkte abbilden und die Rahmenbedingungen weiter bieten kann. Elke Wimmer: „Wir brauchen generell ganz andere Rahmenbedingungen: Mehr Personal mit einer guten Haltung, mehr Räume, ein kleineres Setting, um Reizüberflutung zu reduzieren.“
„Wir haben es täglich mit einer riesigen Spannbreite zu tun“, bilanziert Michael Schulze. Mit einem Übergang von einer Vergangenheit in eine neue Zukunft, deren Rahmenbedingungen noch nicht gesetzt seien. „Es gibt es einen riesigen Bedarf, Dinge zu verändern. Wir sprechen immer mehr von individuellen Leistungen, was auch richtig ist“, fügt Louise Papst hinzu. Eine Frage, auf die sie selbst noch keine abschließende Antwort hat, muss sie angesichts aller Veränderungsprozesse jedoch in Richtung Politik aufwerfen: „Woher kommen die ganzen Fachkräfte? Gerade im ambulanten Bereich, wenn Menschen morgens und abends Assistenz benötigen?“
Aus der kleinen Initiative engagierter Eltern entwickelte sich ein Verein, dessen Angebote heute fast 1000 Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen in Anspruch nehmen. Die Lebenshilfe Düren hat unter anderem eine Frühförderstelle, vier Kitas, Wohneinrichtungen sowie umfangreiche Freizeit- und Bildungsangebote im Portfolio und beschäftigt fast 400 Mitarbeitende.