Eine konsequente Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist Grundlage für die Glaubwürdigkeit der Kirche. „Aufarbeitung ist kein Projekt, keine kurzfristige Maßnahme, sondern eine Frage der Haltung von uns allen.
Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bleibt ein Thema für die Kirche und die ganze Gesellschaft“, sagt Generalvikar Andreas Frick. Das gilt auch mit Blick auf die Nennung von Täternamen, der eine besondere Bedeutung zukommt. Die KirchenZeitung gibt einen Überblick über den Stand der Aufarbeitung im Bistum Aachen.
Mit Pfarrer Leonhard Meurer und Pfarrer Dieter Wintz hat das Bistum Aachen im Mai zwei Namen öffentlich gemacht. Wann folgen weitere?
Derzeit entwickeln interdisziplinäre Fachexperten in Absprache mit den Gremien, die die Aufarbeitung kontrollieren und begleiten, eine Systematik, die als Grundlage für die öffentliche Nennung dient. Die Persönlichkeitsrechte der Täter treten dabei hinter den Schutz und die Interessen von Betroffenen zurück. Diese Kriterien sollen bis zum Ende des Monats vorliegen.
Warum ist eine solche Systematik erforderlich?
Die Veröffentlichung muss juristischen Einwänden standhalten. Betroffene Gemeinden müssen entsprechend begleitet werden. Dazu braucht es eine Vorbereitung. Veröffentlicht werden sollen nicht nur Namen der Täter, die im Gutachten aus dem Jahr 2020 genannt werden, sondern in begründeten Einzelfällen weitere Namen. „Eine differenzierte Betrachtung ist kein Ergebnis von Vertuschung, sondern Ausdruck dessen, in einem Rechtsstaat rechtsstaatliche Standards und Mittel zu wahren. Es gibt die zwingende Notwendigkeit im Sinne höchstmöglicher Transparenz, nachvollziehbare Systematiken zu entwickeln“, betont Andreas Frick.
Was bedeutet die öffentliche Nennung von Tätern für die Betroffenen?
Den oder die Betroffene gibt es nicht. Jeder Fall ist anders. Dies gilt auch für die Nennung von Tätern. „Die Sicht der Betroffenen, ihre Anliegen sowie ihr Schutz vor Belastungen und Retraumatisierung stehen im Mittelpunkt all unserer Maßnahmen“, sagt Andreas Frick. Immer und zu jeder Zeit müsse deswegen die Hoheit über das eigene Verfahren bei den Betroffenen selbst liegen.
Wer gilt als Täter?
Als Täter gelten diejenigen, die entweder verurteilt wurden oder nach Überzeugung des Bistums Aachen Täter waren oder sind. Damit sollen auch bislang noch unbekannte Betroffene aufgerufen werden, sich zu melden.
Wie handelt das Bistum Aachen bei aktuellen Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt?
Jeder neue in der Intervention gemeldete Fall wird der Staatsanwaltschaft gemeldet. Staatliches Recht hat Vorrang. Handelt es sich bei dem Beschuldigten um einen Priester, wird erst nach Abschluss des staatlichen Verfahrens ein kirchenrechtliches eingeleitet.
Und wer kontrolliert die Aufarbeitung im Bistum Aachen?
Diese unabhängigen Gremien kontrollieren und begleiten die Aufarbeitung: Der Betroffenenrat vertritt die Interessen der Betroffenen. Die unabhängige Aufarbeitungskommission, in der externe Expertinnen und Experten sowie Betroffene vertreten sind, hat zur Aufgabe, die Aufarbeitungsergebnisse zu dokumentieren. Der Ständige Beraterstab des Bischofs ist ein weiteres Gremium, das in einem offenen Dialog kritische Punkte anspricht. Mit allen Gremien ist das Bistum Aachen in intensivem Austausch.
Welche konkreten Maßnahmen hat das Bistum Aachen seit Veröffentlichung des Gutachtens 2020 umgesetzt?
Das unabhängige Gutachten der Münchener Kanzlei – heute Westphal & Spilker Rechtsanwälte – hat die systemischen Ursachen durch Klerikalismus und sogenannten Co-Klerikalismus klar benannt. Die Konsequenzen unter anderem: Neuausrichtung der Priesterausbildung, konsequenter Einsatz bestehender Schutzkonzepte in allen Pfarreien und Einrichtungen sowie die weitere Professionalisierung von Intervention und Prävention, die seit 2011 systematisch aufgebaut wurde. Alle fünf Jahre müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Dies gilt auch für Priester und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Wie lässt sich das Dunkelfeld weiter erhellen?
Missbrauch entsteht immer in speziellen (Macht-)Kontexten. Täterstrategien sind oft so perfide, dass sie kaum erkennbar sind. Dies macht die Betrachtung der Vergangenheit und der systemischen Ursachen unverzichtbar. Denn bisweilen haben viele Menschen etwas geahnt. „Umso wichtiger ist es, dieses Thema auch vor Ort zur Sprache zu bringen. Dies wird ein weiterer wesentlicher Schritt sein, den wir erarbeiten“, sagt Andreas Frick. So kann das Dunkelfeld weiter erhellt und können Betroffene ermutigt werden, sich anzuvertrauen.
Insgesamt 250 Betroffene sind dem Bistum Aachen bekannt. Im Bistum
Aachen sind bis Juni 2023 insgesamt 2,355 Mio. Euro an Betroffene gezahlt worden. Eine Höchstgrenze für Zahlungen durch die UKA gibt es nicht. In drei Fällen hat das Bistum Aachen mehr als 100000 Euro gezahlt. Das jüngste Urteil des Landgerichtes Köln, das einem Betroffenen 300000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen hat, wird nicht nur Auswirkungen auf bisherige staatliche Schmerzensgeldtabellen haben, die bislang keinen sexuellen Missbrauch abbilden. Es wird auch die Anerkennungsleistungen durch die UKA beeinflussen.
Wie viele Täter sind dem Bistum Aachen bekannt?
Per Ende Juni 2023 sind dem Bistum Aachen 121 Beschuldigte namentlich bekannt. Darunter befinden sich 110 Kleriker (Pfarrer, Kapläne, Patres, Diakone) und Ordensschwestern. Die weiteren elf waren Hausmeister, Küster, Lehrer und Erzieher.
An die Adresse missbrauch-melden.de oder an Tele. 02 41/45 22 25 können sich Betroffene und Zeugen sexualisierter Gewalt wenden, die Vorfälle melden wollen oder Informationen, Beratung oder Hilfe benötigen.