Aufbrechen – das kann nicht nur bedeuten, etwas ganz Neues anzufangen, sondern auch, etwas nachzuholen, was einem vorher so nicht möglich war. Wie einen Schulabschluss. Vier Menschen, die das Weiterbildungskolleg Linker Niederrhein besuchen, erzählen von ihren Erfahrungen und Hoffnungen, die sie damit verbinden.
Für Mirjam Nowarra war das Abitur immer ein lang gehegter Traum. „Dabei war ich eigentlich auf dem Gymnasium“, erzählt die 46-Jährige. Doch ihr fehlte damals mit 15 Jahren die notwendige Orientierung: „Mit 15 weiß man noch nicht genau, wo es hingeht.“ Sie verließ das Gymnasium nach der 10. Klasse, machte eine Ausbildung zur Friseurin, arbeitete 20 Jahre in dem Beruf, bekam eine Tochter. „Ich wusste immer, irgendwann mache ich das Abitur nach“, erzählt sie. Irgendwann, das war 2008. Doch den ersten Anlauf musste sie abbrechen, weil sie durch eine chronische psychische Erkrankung längere Zeit im Krankenhaus bleiben musste.
Durch ihre Erkrankung kann Mirjam Nowarra ihren Beruf nicht mehr ausüben und ist erwerbsgemindert berentet. Vor anderthalb Jahren startete sie einen weiteren Anlauf. „Ich brauche ein Ziel im Leben“, sagt sie. Aktuell ist Mirjam Nowarra im 3. Semester am Abendgymnasium Viersen. Sie besucht dabei das Programm „Abitur online“, eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht. Montags und mittwochs ist sie an der Schule, die übrige Zeit erhält sie über eine Lernplattform Aufgaben, die sie selbst bearbeitet. Das bedarf Eigeninitiative und Selbstdisziplin, aber „ich habe schon immer gerne gelernt.“ Von ihrem Umfeld und ihrem Partner bekommt sie dabei viel Unterstützung. „Meine Familie und Freunde sind stolzer auf mich, als ich es selbst bin.“ Mit ihrer Tochter lernt sie auch ab und zu gemeinsam, Englisch und Französisch: „Sie ist richtig stolz auf ihre Mama.“
Wenn Mirjam Nowarra das Abtiur geschafft hat, würde sie gerne weiter studieren. „Aber noch traue ich mich nicht, gedanklich da hin zu gehen.“ Andererseits, sagt sie, „kann ich mir nicht vorstellen, drei Jahre zur Schule zu gehen und dann nichts mehr zu machen“.
Studieren, das würde Felix Eschbach auch gerne: „Musikmanagement.“ Der 25-Jährige besucht das Abendgymnasium des Weiterbildungskollegs am Standort Krefeld, ist derzeit im fünften Semester. „Es ist fast geschafft.“ Zuvor hat er die Abendrealschule besucht, seinen Realschulabschluss gemacht. Nach der Schule hat er eine Ausbildung als Maurer begonnen, doch es war nicht das, was er machen wollte. Er fing an, im Call-Center zu arbeiten. Auch hier stellte er sich die Frage: „Willst du das für den Rest deines Lebens machen?“
Also suchte er nach einer Perspektive und entschied sich, wieder die Schulbank zu drücken. Seine Familie hat Felix Eschbach in der Entscheidung bestärkt. „Es ist anders als früher in der Schule. Ich weiß jetzt, wofür ich das tue“, unterstreicht er. Auch
gefällt ihm die Atmospäre am Abendgymnasium: „Ich lerne mit anderen Erwachsenen. Das ist sehr entspannt. So etwas wie Mobbing kenne ich hier gar nicht.“
Auch Mirjam Nowarra hat in Viersen positive Erfahrungen gemacht: „Wir sind eine große Gemeinschaft.“
Für die 20-jährige Nikita Engbrocks ist das Weiterbildungskolleg ein wichtiger Schritt in Richtung Normaliät. „Mit 16 ist viel passiert bei mir“, erzählt sie. Damals verliebte sie sich in einen Jungen, mit dem sie inzwischen nicht mehr zusammen ist. „Ich habe alles schleifen lassen.“ Irgendwann ging Nikita Engbocks auch nicht mehr regelmäßig zur Schule. Ihre Eltern setzten sie vor die Tür. Sie bekam eine Wohnung durch das Jugendamt zugewiesen, unternahm mehrere Anläufe, um wieder zur Schule zu gehen.
Doch es ging ihr nicht gut. Sie kapselte sich von ihrem Umfeld ab, geriet an die falschen Freunde. „Mit 18 bin ich wieder zu meinen Eltern gezogen.“ Nikita Engbrocks bekam die Kurve, besucht jetzt die Abendrealschule am Standort Mönchengladbach im dritten Semester. „Es tut mir gut, wieder Bezug zu anderen Menschen zu haben“, sagt sie. Auch der Unterricht selbst macht ihr Spaß. „Ich lerne gerne. Ich merke, ich verstehe den Stoff.“
Früher, erzählt Nikita Engbrocks, habe sie davon geträmt, Psychologie zu studieren. Doch inzwischen neigt sie eher zu einer Berufsausbildung. „Das würde in den Sozialbereich gehen.“
Auch Ulas Erdal hatte es nicht einfach als Jugendlicher. „Ich war auf mich alleine gestellt“, erzählt der heute 35-Jährige. Das hatte auch Auswirkungen auf die Schule. Er hat ein Abgangszeugnis, doch damit hat er auf dem Arbeitsmarkt nur wenig Chancen. „Ich habe Bewerbungen geschrieben und wurde nie eingeladen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich in Zukunft blöd dastehe, wenn ich nicht etwas ändere. Ich muss Verantwortung übernehmen.“ Durch Mund-zu-Mund-Propaganda kam er zum Weiterbildungskolleg und bewarb sich an der Abendrealschule, um den erweiterten ersten Abschluss nachzuholen. Das entspricht dem früheren Hauptschulabschluss nach der 10. Klasse. „Anfangs hatte ich etwas Angst vor dem Schulalltag“, gesteht Ulas Erdal, doch er merkt, er kommt mit.
Mittlerweile ist er im dritten Semester am Standort Mönchengladbach, ist in der gleichen Klasse wie Nikita Engbrocks. Eigentlich, erzählt Ulas Erdal, unterscheidet sich der Schulalltag nicht groß von dem an einer Tagesschule. Er besucht auch Vormittagskurse. „Da fängt der Unterricht morgens um 8.30 Uhr an.“
Positiv überrascht hat ihn, wie viel Unterstützung er durch die Lehrkräfte erhält. „Sie nehmen das sehr ernst.“ Für ihn ist das gut, sagt er: „Ich brauche jemanden, der mir den Stoff erklärt.“
Gerade sind die Umstände für Ulas Erdal nicht leicht, denn er hat zur Zeit keinen festen Wohnsitz. Trotzdem will er den Abschluss schaffen. Wenn alles gut geht, ist es in sieben Monaten soweit. Danach würde er gerne eine Ausbildungbeim Zoll oder bei der Feuerwehr machen. Und irgendwann eine Familie gründen. „Ich habe Träume, wie jeder andere auch“, sagt er.
Ulas Erdal sagt: „Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, hier meinen Abschluss zu machen.“ Mirjam Nawarro ergänzt: „Es ist ein Geschenk, dass es die Möglichkeit gibt, dass es ohne hohe Kosten und später im Leben machbar ist, so etwas nachzuholen. Alles, was wir mitbringen müssen, ist unser Wissen.“
Joachim Vosen, leitender Kollegsdirektor am Weiterbildungskolleg Linker Niederrhein: „Nordrhein-Westfalen ist im Bereich der Weiterbildungskollegs im Vergleich zu anderen Bundesländern gut aufgestellt.“
An rund 60 Standorten bieten Kreise und Kommunen in NRW die Möglichkeit, Schuabschlüsse auf dem zweiten Bildungsweg zu machen. Dabei, beobachtet Vosen, habe sich in den vergangenen Jahren einiges verändert: „Es sind nicht mehr nur Menschen, die voll im Berufsleben stehen, sondern auch zunehmend jüngere Menschen, die sich an den Kollegs bewerben.“
Den Schulabschluss neben einem Beruf, der Erziehung der Kinder oder der Pflege eines Angehörigen zu machen, sei nicht einfach. Das Umfeld müsse mitziehen, sonst klappt das nicht, sagt Vosen. „Man braucht viel Disziplin. Aber oft sind gerade diejenigen, die den engsten Zeitplan haben, auch diejenigen, die die besten Abschlüsse machen. Sie gehen sehr organisiert an die Sache heran.“
Weiterbildungskollegs bieten die Chance, seinem Leben noch einmal eine andere Perspektive zu geben. Mirjam Nowarra, Nikita Engbrocks, Felix Eschbach und Ulas Erdal haben die Chance ergriffen.
Mehr Informationen zu den Schulabschlüssen und Angeboten am Weiterbildungskolleg Linker Niederrhein gibt es unter Tel. 0 21 62/39 24 30
E-Mail: info@wbk-viersen.de oder https://wbk-viersen.de
Informationen über weitere Standorte von Weiterbildungskollegs im Bereich des Bistums Aachen gibt es auf der Homepage des Dachverbands der Weiterbildungskollegs in Nordrhein-Westfalen unter https://wbk-nrw.de