Ein jüdisches Schicksal

Wie Hildegard Sherman-Zander den Holocaust überlebte und sich ein neues Leben aufbaute

Hildegard Zander im Oktober 1945. Sie hatte als Einzige ihrer Familie überlebt. (c) Stadtarchiv Mönchengladbach
Hildegard Zander im Oktober 1945. Sie hatte als Einzige ihrer Familie überlebt.
Datum:
29. Okt. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 44/2024 | Garnet Manecke

Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Familien wurden zerstört und geplündert. Der Auftakt für die systematische Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa. Auch Hilde Sherman-Zander gehörte zu den Verfolgten und Entrechteten. Sie überlebte als Einzige aus ihrer Familie. Dies ist ihre Geschichte.

In Wickrathberg erinnern Stolpersteine an Hildegard Zander und ihre Familie. (c) Garnet Manecke
In Wickrathberg erinnern Stolpersteine an Hildegard Zander und ihre Familie.

Es gibt ein Bild, auf dem ist Hilde Zander mit ihren jüngeren Geschwistern Ruth und Herbert zu sehen. Die Kinder lächeln auf der Schwarz-Weiß-Fotografie in die Kamera, aber es ist kein unbefangenes Lächeln. Die Aufnahme ist etwa 1936 entstanden, da war Hilde Zander 13 Jahre alt, ihr Bruder Herbert wurde 12 und die Jüngste der drei, Ruth, feierte in diesem Jahr ihren neunten Geburtstag. Da prägte in Deutschland der Antisemitismus das Leben der Juden.

Fünf Jahre später wurde Hildegard nach Riga deportiert. Ihre Eltern Albert und Paula Zander, sowie ihre Geschwister wurden 1942 nach Izbica deportiert. Im Oktober 1945 wird Hildegard wieder in eine Kamera lächeln. Nur wenige Monate zuvor war die 22-Jährige aus dem Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Hassee befreit worden. Als Einzige der Familie aus Wickrathberg hat die junge Frau den Holocaust überlebt.

Heute erinnern Stolpersteine vor dem Haus an der Berger Dorfstraße 25 an 
die Familie. Auch für Hildegard ist auf dem Gehweg ein Stein eingelassen. Am 22. März 1923 wurde Hildegard, die alle nur Hilde nannten, in Wanlo geboren. Damals lebte die Familie im Haus der Großeltern. Nach Hildes Geburt zogen ihre Eltern mit dem Kind nach Wickrathberg. Ein idyllisches Dorf am Rande von Mönchengladbach. Nur wenige Schritte von Hildes Elternhaus steht die evangelische Kirche. Ein Gotteshaus im Stil des Rokoko, das bis heute ein architektonisches Schmuckstück ist.

Neben der Kirche gab es auch eine Synagoge in Wickrathberg. Der Ort war ein Zentrum jüdischen Lebens, zusammen mit den Orten Wickrath, Wickrathhahn und Schwanenberg. Jüdinnen und Juden gehörten zur Dorfgemeinschaft. Sie waren in Vereinen aktiv, feierten mit ihren Nachbarn, lachten in guten Zeiten mit ihnen und weinten in schweren Zeiten an ihrer Seite. Im Oktober 1935 lebten in der Synagogengemeinde Wickrath, zu der Wickrathberg, Beckrath, Herrath und Wanlo gehörten, 118 jüdische Familien.

Die Einrichtung der Synagoge wurde  demoliert, das Gebäude in Brand gesteckt

Eine Aufnahme von 1989: Hilde Sherman-Zander (r.) hatte sich ein neues Leben aufgebaut mit ihrem Mann Willi Sherman und ihrer Tochter. (c) Stadtarchiv Mönchengladbach
Eine Aufnahme von 1989: Hilde Sherman-Zander (r.) hatte sich ein neues Leben aufgebaut mit ihrem Mann Willi Sherman und ihrer Tochter.

Für sie änderte sich das idyllische Leben in dem Dorf in der Nacht vom 9. November, in der die Einrichtung der Wickrathberger Synagoge zerstört wurde. In der folgenden Nacht brannte die Synagoge aus. Parallel wurden in Wickrath jüdische Geschäfte demoliert und Wohnungen geplündert. Eine Bronzeplatte mit dem Bild eines siebenarmigen Leuchters erinnert an den Standort der Synagoge. In Wickrath ist der jüdische Friedhof mit etwa 
65 Grabsteinen erhalten.

1941 begann die systematische Deportation der Jüdinnen und Juden. Auch Hildes Verlobter Kurt Winter stand auf einer Transportliste. Die 18-Jährige meldete sich freiwillig zum Transport, um nicht von ihm getrennt zu werden. Am 6. Dezember heiratete das Paar, fünf Tage später wurden die beiden nach Riga deportiert. Kurt Winter überlebte nicht.
Nach ihrer Befreiung wurde Hilde schwerkrank nach Scheden gebracht. Am 27. November 1945 wanderte sie von Göteborg nach Kolumbien aus. 14 Tage dauerte die Überfahrt. Bei einem Cousin, der ein Restaurant hatte, begann sie zu arbeiten. Gleichzeitig suchte sie nach Willy Sherman, den sie in Riga kennengelernt hatte. Über eine gemeinsame Bekannte in Kassel fand sie ihn. Sherman lebte in München. Nach einigen Schwierigkeiten bekam er ein Visum und folgte Hilde nach Kolumbien. Die beiden heirateten und bekamen zwei Töchter. 1995 zog das Ehepaar nach Israel, wo Hilde Zander-Sherman bis zu ihrem Tod lebte. Am 11. März 2011 starb sie in Jerusalem.

 

Nach Deutschland reiste sie in den 1970er-Jahren, um in Hamburg in Strafprozessen auszusagen. Bei dieser Gelegenheit hat sie auch Mönchengladbach besucht. Ihre Tochter Ruthy kam 2015 in die Geburtstadt ihrer Mutter, um mit Schülerinnen und Schülern über das Leben ihrer Mutter zu sprechen. Hilde Zander-Sherman hat über ihre Geschichte ein Buch geschrieben, das 1984 unter dem Titel „Zwischen Tag und Dunkel – Mädchenjahre im Ghetto“ erschien.

Am 16. Oktober beschloss eine Mehrheit im Rat der Stadt, einen Straßenabschnitt nach Hilde Sherman-Zander zu benennen. Bis zu ihrer Zerstörung am 
9. November 1938 stand an dieser Stelle die Mönchengladbacher Synagoge.