„Ein Bürgermeister ist ein Netzwerker“

Was bedeutet es, eine kommunale Gemeinde zu leiten? Ein Gespräch mit Karl-Heinz Wassong

Karl-Heinz Wassong, Bürgermeister der Gemeinde Niederkrüchten. (c) Gemeinde Niederkrüchten
Karl-Heinz Wassong, Bürgermeister der Gemeinde Niederkrüchten.
Datum:
28. Aug. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 35/2024 | Kathrin Albrecht

Streit in der Bundesregierung, marode Straßen und Schulen, überlastete Verwaltungen.
Es scheint leicht, von der Politik verdrossen zu sein. Oft entlädt sich der Unmut bei den kommunalen Vertreterinnen und Vertretern. Wie Karl-Heinz Wassong, Bürgermeister in der Gemeinde Niederkrüchten, die Situation erlebt und welche Rolle Kirche dabei spielt, hat er der KirchenZeitung verraten. 

Herr Wassong, was hat Sie bewogen, in die Politik zu gehen?

Karl-Heinz Wassong: Ich bin hier geboren und engagiert in Vereinen, Kirche und Sport und habe immer Kontakt gehalten. Für mich fehlte eine Zukunftsperspektive, wurden die Chancen, die hier liegen, nicht ergriffen. Da kam so ein Prozess in Gang, der zum Teil auch von außen kam, auch nachdem der damalige Bürgermeister erklärt hatte, er wolle nicht mehr weitermachen: „Wäre das nichts für dich?“. Ich habe länger überlegt und wusste, was auf mich zukommt, mein Schwager war zu der Zeit Bürgermeister in Schwalmtal. Man ist eine öffentliche Person, gerade auf dem Land noch mal mehr. Der ganze Prozess hat ein Dreivierteljahr gedauert, bis die Entscheidung reif war. 

Was macht Niederkrüchten aus?

Wassong: Niederkrüchten ist eine Grenzgemeinde im Naturpark Schwalm-Nette, den Kern bilden die Ortschaften Niederkrüchten und Elmpt, dazu kommen 14 kleinere Ortsteile, insgesamt hat der Ort 15000 Einwohner.
Wir haben viel Natur,  davon allein 3000 Hektar Wald, viele landwirtschaftliche Strukturen. Chancen liegen unter anderem im Tourismus, vor allem bei Menschen, die die Natur erleben möchten. Chancen liegen auch in der interkommunalen und grenzübergreifenden Zusammenarbeit, zum Beispiel mit der niederländischen Nachbarkommune Roermond.
Die größte Chance liegt im ehemaligen britischen Militärflughafen. Das Gelände wird überwiegend der Natur überlassen, auf 150 Hektar wird ein Investor ein energieautarkes Industriegebiet errichten. Außerdem soll Energie auf 40 Hektar Photovoltaik und durch einen Windpark auf der ehemaligen Landebahn produziert werden. Da ergeben sich Möglichkeiten, die für die Gemeinde und Region profitabel sein können. 

Wie lässt sich Politik auf kommunaler Ebene gestalten? 

Wassong: Man braucht Visionen und Ideen und muss schauen, dass man Mehrheiten dafür findet. Ein Bürgermeister ist ein Netzwerker, innerhalb wie außerhalb der Gemeinde. Es braucht einen roten Faden: Wo will man hin?
Ich bin Sozialarbeiter und habe gelernt, mit Konzepten und Plänen zu arbeiten und diese umzusetzen. Als ich mein Amt angetreten habe, habe ich zuerst einen Gemeindeentwicklungsplan erstellt. Wir sind durch alle Ortschaften gegangen und haben die Menschen gefragt: Was macht den Ort liebenswert und wovon sollen die Enkel profitieren?
Dabei kam unter anderem heraus: Wir brauchen mehr als 1000 neue Wohnungen. Das wollen wir schaffen, indem wir grenz- und kommunalübergreifend zusammenarbeiten. Auch die Infrastruktur, Versorger, medizinische Versorgung, Kindertagesstätten und Schulen haben wir gesichert. 

Welche Grenzen gibt es? 

Wassong: Die Grenzen einer kleinen Gemeinde liegen im Kirchturmdenken der handelnden Personen und der persönlichen Beziehungen untereinander. Dann sind die Kommunen in NRW nicht ausreichend finanziert.
Aufgaben, die auf der Landes- und Bundesebene beschlossen werden, wie der Ausbau der Kita-Angebote oder die Ganztagsbetreuung in der Schule, werden an die Kommunen delegiert, die wir dann lösen müssen.
Und die Hälfte der Mittel, die für diese Aufgaben bestimmt sind, bleibt beim Land hängen. Gerne hätte ich die Idee eines interkommunalen Bades vor dem Hintergrund von vier maroden Bädern in zwei Kommunen umgesetzt.
Ein Bürgerentscheid hat mehrheitlich für die Sanierung des alten Freibades entschieden. Hier zeigt sich, dass der Bürger als Souverän Möglichkeiten der direkten Mitbestimmung hat.

Wenn Sie auf die acht Jahre im Amt zurückblicken, was waren die größten Herausforderungen?

Wassong: Ich bin seit achteinhalb Jahren Krisenmanager. Ich war 2015 kaum im Amt, da mussten wir uns mit der AFD-Landesdemonstration am damaligen Flüchtlingslager auf dem Militärgelände auseinandersetzen mit bis zu 1500 Menschen.
Mit dem Ukraine-Krieg wussten wir zum Teil nicht mehr, wo wir die Menschen unterbringen sollten. Wir haben in der Folge ein Gesamtkonzept entwickelt und viel investiert. Unser Ziel ist die dezentrale Unterbringung und Integration.
Camps bringen Probleme. Das haben wir geschafft. Wir haben insgesamt 40 Wohnheime, ein Containerdorf für 80 Menschen für den Übergang. Wichtig sind auch die Menschen, die die Geflüchteten begleiten. Wir haben gute Sozialarbeiter und drei Hausmeister, die mit Menschen umgehen können.
Trotzdem bleibt die Situation schwierig. Es kommen jede Woche neue Menschen, und es gehen zu wenige aus dem System. Das erschwert die Integration. In Niederkrüchten ist die Flüchtlingshilfe unter dem Dach der katholischen Kirchengemeinde sehr aktiv in der Hilfe für Geflüchtete, sie organisiert Sprachkurse oder Kinderbetreuung. Aktuell leben 450 Geflüchtete in der Gemeinde. Der Anteil der Menschen, die Probleme verursachen, ist sehr gering.
Das liegt auch daran, dass wir versuchen, Beziehungen zu den Menschen aufzubauen – sowohl zu den Geflüchteten als auch zu den Nachbarn. Dann kamen Corona, der Ukraine-Konflikt und die Energiemangellage. Zwischendurch noch ein achttägiger Vegetationsbrand im Grenzwald.

Was hat das mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern gemacht?

Wassong: Die Verwaltung hat es resilienter gemacht, alle Mitarbeitenden, die direkt betroffen waren, sind über sich hinausgewachsen. Die Vereinzelung hat meines Erachtens zugenommen. Wir nehmen wahr, dass durch das unmittelbare Erleben von Krisen und Kriegen Angst und Unsicherheit bei den Menschen wachsen.
Aktuell fehlt politische Klarheit, gerade bei der Ampelkoalition. Die Landesregierung ist nicht wahrzunehmen, es wird immer an den Bund verwiesen. Es fehlt an Verantwortlichkeit. Das führt dazu, dass viele Menschen den etablierten Parteien keine Lösungen mehr zutrauen.
Deswegen haben die Parteien, die einfache Botschaften postulieren, einen derart großen Zulauf. 

Sehr deutlich wurde das bei der Europawahl. Die AFD kam im gesamten Kreis Viersen auf 11 Prozent.

Wassong: In Niederkrüchten waren es 13,8 Prozent AFD-Wähler. Ich habe mich geschämt. Nach den Sommerferien habe ich ein Treffen mit den Parteien vereinbart, wo ich sie fragen will, wie sie damit umgehen und wie wir an die Menschen herankommen.
Da sind wir als Demokraten, finde ich, sehr stark gefordert.

Ihr Kollege, der Brüggener Bürgermeister Frank Gellen (CDU), möchte mit den AFD-Wählern in den Dialog treten. 

Wassong: Das tue ich auch. Da, wo es möglich ist, gehe ich in die Auseinandersetzung, frage zum Beispiel ganz konkret, welchen persönlichen Nachteil Menschen dadurch erleben, dass 450 Geflüchtete in Niederkrüchten leben.
Wir können Demokratie nur gemeinschaftlich entwickeln. Das hängt nicht nur an „denen da oben“.  

Wie blicken Sie auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg diesen Herbst?

Wassong: Mit Sorge. Ein Hoffnungsschimmer waren die Kommunalwahlen dieses Frühjahr, die für die AFD-Kandidaten nicht den Erfolg gebracht haben, den sich die Parteispitze erhofft hat.
In den östlichen Bundesländern hat sich das Gefühl der Perspektivlosigkeit gefestigt. Das macht auch anfälliger für ganz billige Botschaften.
Doch spannender ist auch der Blick auf die Bundestagswahlen und die Kommunalwahlen im kommenden Jahr. Wir lassen den Volksverführern zu viel Raum. Wir müssten klarer sein. Die Demokratie ist ein Wert, den es zu vermitteln gilt, das ist Arbeit.  

Sie haben eben das Engagement der Kirchengemeinde in der Flüchtlingshilfe erwähnt. Inwieweit kann Kirche noch helfen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder zu stärken?

Wassong: Der Wunsch nach gemeinschaftlichem Erleben ist da, das hat nicht nur die Fußball-EM gezeigt. Es braucht auch inhaltliche gemeinschaftliche Erlebnisse, wie sie die Kirche auch in der Jugendarbeit geschaffen hat.
Nach meinem Gefühl ist die Kirche da nicht mehr ausreichend präsent. Ich komme aus dem Bereich der  Ferienlager. Ich halte das für die beste Möglichkeit, grundlegende Werte des Zusammenlebens zu vermitteln, nicht das Internet oder Tiktok.
Es wäre gut, wenn Kirche da verstärkt tätig würde und auch das Ehrenamt stärken könnte. Ich empfinde das Engagement in der Jugendarbeit als gesellschaftlichen Auftrag der Kirche.

Wie könnte Kirche in der Gesellschaft wieder präsenter werden?

Wassong: Kirche muss mit Angeboten an den Lebenswenden der Menschen präsent sein. Wenn Kirche sich wieder mehr den Menschen zuwenden könnte, statt sich mit sich selbst zu beschäftigen, wäre es auch wieder mehr meine Kirche. 

ZUR PERSON

Karl-Heinz Wassong ist in Niederkrüchten aufgewachsen und bis heute in verschiedenen örtlichen Vereinen engagiert. Nach dem Abitur am Albertus-Magnus-Gymnasium studierte er Soziale Arbeit an der Katho NRW, Abteilung Aachen.
Nach dem Abschluss trat er in den kirchlichen Dienst im Bistum Aachen ein. Zuletzt berief ihn der damalige Bischof Heinrich Mussinghoff zum Beauftragten von Prävention sexueller Gewalt. Seit 2015 ist Wassong parteiloser Bürgermeister in Niederkrüchten.