Gehen oder bleiben? Diese Frage beantworten immer mehr Menschen mit: gehen. Das zeigt auch die Zahl der Kirchenaustritte im Bistum Aachen. Wie dem entgegenwirken? Mit einer pastoralstrategischen Neuorientierung, sagt Thomas Ervens, Leiter der Hauptabteilung Pastoral/Schule/Bildung, die im Sinne des Evangeliums von den Bedürfnissen der Menschen her denkt. Wie genau diese aussieht, erklärt er im Interview mit der KirchenZeitung.
Die Botschaft Jesu ist doch eigentlich auch nach 2000 Jahren unverändert aktuell. Warum braucht es überhaupt eine Pastoralstrategie?
Bleibende Grundlage all unseres Handelns in der Welt ist das Wort und Beispiel Jesu Christi. Als Kirche stehen wir somit immer auch im Dialog mit der Welt. Die Welt heute ist aber eine andere als vor 2000 Jahren. Religion und Glaube haben in unserer säkularisierten Zeit eine ganz andere Bedeutung als in vergangenen Zeiten. Vor diesem Hintergrund wollen wir grundlegende Linien beschreiben: für die Menschen, die ihren Glauben heute aktiv leben, aber auch für diejenigen, die auf andere Weise mit Kirche in Berührung kommen. Ziehen wir den Kreis größer, nehmen wir auch diejenigen in den Blick, die zu Recht von uns erwarten, dass wir uns als Kirche in einem großen gesellschaftlichen Kontext einbringen. Wir machen deutlich, wofür die Kirche im Bistum Aachen steht. Dazu braucht es einen grundlegenden Perspektivwechsel. Noch stärker als bisher stellen wir die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt und ihre Erwartungen an uns. Und das auf der Grundlage des Evangeliums.
Sollte das nicht selbstverständlich sein?
Sicherlich, aber wir wollen das neu lernen. Wir haben zwei Bezugspunkte.
Einerseits das Evangelium und den Sendungsauftrag Jesu Christi zu den Menschen sowie den individuellen Menschen heute mit seinen existenziellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Beides in einen Dialog und eine Begegnung miteinander zu bringen, ist unsere Aufgabe.
Mit anderen Worten: Sie richten Ihren Blick mit der Pastoralstrategie nach vorn?
Unbedingt. Unser Reformprozess beinhaltet einen radikalen Kultur- und Haltungswandel. Wir als Kirche sind nicht der Mittelpunkt, um den sich die Welt dreht. Wir wollen heraus aus der Nabelschau und sprach- und handlungsfähig werden: Was ist unser Auftrag? Was haben wir für Angebote? Nicht nur für Menschen, die kirchlich engagiert sind, sondern auch für diejenigen, die gar nicht primär als Glaubende unsere Dienstleistungen, etwa in den Bereichen Diakonie und Bildung, in Anspruch nehmen. Auch denen, die auf der Suche nach Sinn und Orientierung sind. Ihnen wollen wir gute Angebote ermöglichen.
Wie genau wollen Sie die Menschen erreichen?
Wir gehen innerhalb der Zielgruppen sehr viel differenzierter vor und fragen nach den Bedürfnissen. Modern fomuliert, würde man dies als Nutzerorientierung beschreiben. Dieser Begriff weitet den eng gefassten Begriff „Gläubige“. Der Sendungsauftrag Jesu Christi richtet sich schließlich an alle Menschen.
Das bedeutet dann aber nicht weniger als eine komplette Neuausrichtung?
Ja und nein. Wir haben den Eindruck, dass das Bisherige an vielen Stellen nicht mehr trägt. Wir wollen in unser Handeln ein neues Denken bringen. Künftig wird es darum gehen, dass Menschen sich an verschiedenen Orten von Kirche selbst organisieren. Wir setzen darauf, dass sie diese Aufgabe aktiv und selbstbestimmt übernehmen wollen. Eigenverantwortung, Kreativität – die Tugenden, die Menschen heute wie selbstverständlich in ihrem Arbeitsumfeld erwarten, gelten auch für die unterschiedlichen Orte von Kirche. Die sehen in Krefeld möglicherweise anders aus als in der Eifel.
Allen gemein ist: Über die Begegnung Glauben erfahren oder kennenlernen zu können. Wir können und wollen im Bistum Aachen in Zukunft nicht mehr alles durchstrukturieren, sondern werden stattdessen Angebote von Spiritualität, Glaubensgemeinschaft, Liturgie und Beheimatung profilieren. Das Engagement von Menschen zu stärken und ihnen eine kompetente Begleitung zu bieten: Darauf wird es ankommen.
Und das ist dann doch wieder gar nicht so ganz neu. Es ist letztlich eine Rückbesinnung auf die Vorgehensweise Jesu selbst, sein Zugehen auf die Menschen.
Eine Kirche, die sich (welt-)offen zeigt, ohne dabei jedoch beliebig zu werden – wie soll das gelingen?
Tatsächlich sind für uns alle Menschen die Adressaten unserer Angebote, weil die Zuwendung Jesu allen gilt. Viele Menschen sind unverändert auf der Sinnsuche, nach einer Spiritualität – dies ist eine Chance, die wir unbedingt ergreifen wollen. Ohne als Kirche wahrgenommen zu werden, die mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Eine Bischöfliche Schule beruht auf dem Fundament des Evangeliums. Diese Werte und Haltung sind auch deutlich erkennbar und Schule gerade deshalb auch ein Ort, der selbstverständlich offen für einen Dialog zwischen anderen Kulturen und Religionen ist. Diese Vielfalt in Einheit ist katholisch.
Für die Pastoralstrategie sind vier Handlungsmaximen maßgeblich. Was verbirgt sich hinter den beiden Handlungsmaximen Sicherheit und Qualität?
Jede und jeder soll sich an den verschiedenen Orten von Kirche sicher und willkommen fühlen; und es auch objektiv sein. Darüber hinaus muss unser gesamtes Handeln in hohem Maße Qualitätsstandards entsprechen. Die können unterschiedlich sein, aber die Vergleichbarkeit muss gegeben sein. Im Kita- und Schulbereich haben wir bereits objektive Standards, in pastoralen Vollzügen wollen wir das noch lernen. Wir brauchen es letztlich für alle Bereiche.
Engagementfreundlichkeit und Vernetzung gehören ebenfalls zu den Handlungsmaximen. Was heißt das?
Orte von Kirche können nur dann lebendig sein, wenn sich Menschen finden, die diese mittragen und sich für ihr Engagement qualifizieren lassen. Wir können nicht mehr alle Vollzüge durch Hauptamtliche verwirklichen. Schon jetzt lebt Kirche an vielen Stellen vom ehrenamtlichen Engagement. Das müssen wir weiter ausbauen und die Engagierten stärken und fördern. Die Vernetzung mit Partnern aus Orts- und Weltkirche, Ökumene und Gesellschaft ist so wichtig, weil jeder Ort von Kirche in größere Zusammenhänge eingeordnet ist. Wenn wir uns isolieren, kommen wir nicht weiter. Deshalb kommt es darauf an, mit allen kirchlichen und nicht-kirchlichen Playern im Austausch zu sein.
Wie ist die bisherige Resonanz auf die Pastoralstrategie?
Wir haben bisher viele positive Rückmeldungen: in den Räten, zuletzt bei der Synodalversammlung oder bei Konferenzen mit pastoralen Mitarbeitenden, zwischenzeitlich auch aus anderen Bistümern mit dem Tenor erhalten: Das ist wirklich etwas fundiert Neues. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies ein Ansatz ist, mit dem wir nach vorn kommen: im Sinne des Evangeliums Jesu Christi für die Menschen heute!
Das Gespräch führte Gerd Felder.