Die Würde des Menschen ist unantastbar

Bischof Dr. Helmut Dieser ruft im Fastenhirtenbrief zum Gebrauch des Wahlrechts auf.

"Wir brauchen offene Debatten statt Zersplitterung, sachliche Argumentationen statt moralische Abwertung, demokratische Mehrheitssuche statt Radikalisierung, ehrliche Kompromissbereitschaft statt Vereinfachung und Verfälschung. "
Datum:
20. Feb. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 08/2024

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Aachen,

in den zurückliegenden Wochen haben in unserem Land sehr viele Menschen an Demonstrationen und Kundgebungen teilgenommen. In vielfacher Weise haben sie dabei ihr Gefühl zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht länger stillschweigen und untätig bleiben wollen. Viele Vergleiche mit der Zeitepoche unserer Vorfahren vor rund 100 Jahren werden dabei gezogen und hervorgehoben: Das wollen wir nicht wieder erleben: Radikalisierung und Terrorisierung, Abwertung und Zerstörung der Demokratie, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, Gewaltherrschaft und Diktatur. Wir spüren unsere Verantwortung. Wir wollen sie nicht versäumen und verspielen. Wir haben aus der Geschichte gelernt!

Die freie Meinungsäußerung ist ein Grundrecht in der Demokratie. Und die beeindruckenden friedlichen politischen Kundgebungen in der Öffentlichkeit tragen dazu bei, die Demokratie zu stärken und zu schützen. Denn nur, wenn die überragende Mehrheit der Menschen in unserem Land die Demokratie wertschätzt und sie schützen will, bleibt sie erhalten. Deshalb bitte ich Sie alle, Ihr souveränes demokratisches Recht auszuüben und an den Wahlen teilzunehmen, die in diesem und in den folgenden Jahren anstehen!

Um frei wählen zu können, müssen wir verschiedene politische Absichten erkennen und unterscheiden. Und um unterscheiden zu können, müssen wir die Vorteile und Nachteile, die Konsequenzen und die Gefahren konkreter Politik wahrnehmen. Darum ist es so wichtig, dass in den Parlamenten alle Positionen und Absichten offen vorgetragen und die freie Meinungsbildung durch die besseren und stärkeren Argumente vorangebracht wird. Nur so können die wahren Ziele politischer Parteien erkannt und auch ihre Abgründe entlarvt werden. Es ist ein großer Fehler, wenn auf Argumente nicht eingegangen wird, wenn Teile des Meinungsspektrums vorschnell tabuisiert und wenn Menschen gar mundtot gemacht werden sollen und sich stattdessen die politisch Verantwortlichen gegenseitig beschimpfen und abwerten. Ich bin überzeugt, die vielen Menschen, die in den letzten Wochen auf die Straße gegangen sind, legen den Finger in Wunden, die für die Demokratie insgesamt gefährlich werden können. Denn wir brauchen offene Debatten statt Zersplitterung, sachliche Argumentationen statt moralische Abwertung, demokratische Mehrheitssuche statt Radikalisierung, ehrliche Kompromissbereitschaft statt Vereinfachung und Verfälschung.

Liebe Schwestern und Brüder, wir alle müssen erkennen: Zwischen den politisch Verantwortlichen und denen, die sie wählen, gibt es dauernde Wechselwirkungen. Zuerst und zuletzt kommt es auf jeden einzelnen von uns an. So gut wir sind, so gut geht es auch der Demokratie und so gut werden auch die sein, die Verantwortung übernehmen.
Was tragen wir als gläubige Christen dazu bei?

Am heutigen ersten Fastensonntag hören wir aus dem Markusevangelium den ersten und wichtigsten programmatischen Satz aus dem Munde Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“

Jesus spricht von etwas Endgültigem, das anbricht durch ihn. Gott handelt in der ganzen Geschichte der Menschheit und jetzt handelt er so, dass etwas Unzerstörbares beginnt für alle, die Jesus glauben und dabei spüren: Es kommt auch auf mich zu, es kommt auch auf mich an!

Dann dreht sich etwas im Leben, die Dinge kommen ins richtige Lot: Das Vollkommene und das Absolute liegen nicht in unserer Macht, sondern allein bei Gott. Wir aber können im Leben immer neu erkennen, worauf es ankommt, wenn wir an das Evangelium Jesu glauben.

Aktuell zum Beispiel das Folgende: Die Unterschiedlichkeit der Menschen und Kulturen sind kein Problem für Gott und für das Reich Gottes, sondern es sind immer die eigenen Ängste und Verweigerungen aufeinander zuzugehen, einander anzuerkennen und zu unterstützen, zu teilen, miteinander um das Bessere zu ringen.

Oder: Alles, was Menschen in dieser Welt aufbauen und erreichen, ist vorläufig, keine Macht von Menschen ist unbegrenzt. Wer uns das Blaue vom Himmel verspricht und die Lösung aller Probleme, lügt und täuscht. Gute Politik muss immer nach dem Allgemeinwohl fragen und darf nicht nur die eigenen Anhänger gelten lassen. Wer nämlich andere ausgrenzen und abwerten will, verstößt gegen das Gebot, das im Reich Gottes gilt: Denn Gott ist der Vater aller Menschen und wir sind Schwestern und Brüder.

„Die Zeit ist erfüllt“, irgendwie hat dieses Wort Jesu auch eine Nähe zu dem, was wir aktuell in den vielen Demonstrationen hören und lesen können: „Nie wieder ist jetzt“.
Ja, es kommt auf jeden einzelnen Menschen an: Erkennst du, dass deine eigene Einstellung zählt? Arbeitest du an dir selbst? Umgibst du dich mit Menschen, die einander nach dem Munde reden, oder öffnest du dich für solche, die einander herausfordern zum eigenen Nachdenken und Handeln?

Von Jesus hören wir, dass er 40 Tage in der Wüste verbringt und dabei fastet und vom Satan in Versuchung geführt wird.

Das lässt noch deutlicher hervortreten, was der aktuelle Satz sagt: Nie wieder ist – dauernd! Denn die Versuchungen hören nicht auf. Aus der Geschichte können wir nur dann lernen, wenn jeder selbst sich einen Abstand verschafft und die Wiederholungen der Versuchungen durchschaut. Dann können wir mit der Kraft des Glaubens widerstehen und gegen das Abgründige angehen.

Dazu gibt es im Evangelium einen sehr tiefen Trost: Jesus selbst ist schon bis ans Ende und bis ans Äußerste gegangen! Er starb nicht als triumphierender Sieger über die bösen Anderen, sondern als Opfer für alle. Kein Sterblicher kann sich selbst oder die eigenen Leute erlösen. In Jesus aber steigt Gott herab zu allen, die im Bösen und in der Verlorenheit aller Fehler und Niederlagen gefangen sind und darin sterben. Er bringt auch ihnen das Evangelium. Die Taufe verändert darum unsere ganze Situation und eröffnet uns von Gott her ein „reines Gewissen aufgrund der Auferstehung Jesu Christi“, so sagt es der Apostel Petrus in der heutigen Lesung.

Aus der Taufe leben, das heißt für uns: Das Größtmögliche hat Gott schon für mich und für die Welt getan. Alles Kleine und Vorläufige aber, das ich in meinem Leben zustande bringe, darf ich zu Gottes Werk hinzulegen, er macht es groß, denn das Reich Gottes ist nahe! Und Gott hat die ganze Macht zu heilen, zu versöhnen und zu erlösen, denn „Christus ist der Sünden wegen ein einziges Mal gestorben, ein Gerechter für Ungerechte, damit er uns zu Gott hinführe“.

Liebe Schwestern und Brüder, in unserem Grundgesetz lautet der erste Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Unser Glaube an das Reich Gottes, das in Jesu beginnt, trägt entscheidend dazu bei, an diesem Satz festzuhalten und unseren Staat so mitzugestalten, dass er die Würde jedes Menschen unantastbar schützt. Niemand darf jemals würdelos behandelt werden! Auch ein Staat, der sich dieses Grundgesetz gibt, hat eine Würde, und diese bringt uns dazu, unsere freiheitliche Demokratie zu schützen.

Ja, die Würde, die jeder Mensch hat, behält er sogar dann, wenn er Fehler macht, schuldig wird, sich selbst ruiniert.  Denn diese Würde kommt von Gott und Gott verbürgt sie uns durch Jesus, den „Gerechten für Ungerechte“, wie es im Petrusbrief heißt. 
Nutzen wir die kommende Fastenzeit, um über diese Würde nachzudenken, die Gott uns verleiht und die unser Staat zu seiner eigenen Grundlage erklärt hat: 
•    Wie kann ich tiefer spüren, dass Gott mir in ganzer Liebe zugetan ist?
•    Wie gehe ich mit mir selber um: liebevoll und barmherzig oder ungeduldig und überfordernd?  
•    Was geht von mir aus für andere: Mache ich die Mitmenschen klein und halte ihre Anliegen von mir fern oder öffne ich mich ihnen und fördere sie?
•    Wovor habe ich Angst? Bewege ich mich darauf zu, dass Jesus mir wirkliche Versöhnung und Frieden anbietet? 
•    Was könnte ich tun, um das Wort Jesu „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ neu anzuwenden auf die Versuchungen, die mich umgeben?

Mit diesen Anregungen wünsche ich Ihnen allen eine heilsame und würdevolle Fastenzeit!

Dazu segne Sie der dreifaltige Gott, 
der Vater † und der Sohn und der Heilige Geist.

Ihr Bischof

Helmut Dieser