„Hoffnung geht über die Erwartung hinaus. Denn die Erwartung kann enttäuscht werden“, sagte Pater Anselm Grün OSB zur Eröffnung der 30. Krippenausstellung von „Weltweit am Dom“ in Aachen. Die KirchenZeitung hat sich mit dem Benediktinerpater aus der Abtei Münsterschwarzach über die vier Advent-Titelthemen „Aufbrechen“, „Unterwegs sein“, „Begegnen“ und „Nach Hause kommen“ unterhalten und auch die Frage erörtert, warum gerade in einer hoffnungslos erscheinenden Welt Weihnachten gefeiert werden sollte.
Pater Anselm, die KirchenZeitung hat jede Ausgabe im Advent einem besonderen Thema gewidmet. Darf ich Ihnen die Titel zurufen – und Sie antworten, was Sie damit verbinden? Der erste Titel lautete „Aufbrechen“.
Anselm Grün: Aufbrechen ist ein Zeichen des Glaubens, Abraham ist das Urbild des Aufbrechens. Es geht darum, nicht hängen zu bleiben, nicht am Gewohnten festzuhalten. Das Leben bleibt nur lebendig, wenn wir immer wieder Aufbrüche wagen. Das ist auch die Hoffnung der Kirche. Manche trauen der Kirche nicht mehr viel zu. Ich traue der Kirche hingegen zu, dass es wieder mehr Aufbrüche gibt.
Gibt oder geben müsste?
Anselm Grün: (er lächelt) Beides.
Welche Aufbrüche gibt es schon, welcher Aufbrüche bedarf es?
Anselm Grün: Es gibt immer spirituelle Aufbrüche von Menschen. Wir erleben es im Kloster, wir erleben es bei vielen Firmen, die aufbrechen, denen nur Geld verdienen zu wenig ist. Wir brauchen eine Kultur der Menschlichkeit in den Firmen. Es stimmt, dass es viele Menschen gibt, die glauben, dass sie nichts mehr glauben. Aber dennoch spüren sie eine spirituelle Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist nicht unbedingt mit Glauben assoziiert. An dieser Sehnsucht der Menschen sollten wir uns orientieren, sie nicht belehren. Wir müssen eine Sprache finden, die die Sehnsucht der Menschen anspricht.
Die von Ihnen angebotenen Führungsseminare für Manager sind alle überfüllt. Was vermitteln Sie den Menschen?
Anselm Grün: Werte. Dass Leben und Wirken dem Menschen dienen sollten anstatt sich den Zahlen unterzuordnen. Der Unternehmer Bodo, der zu uns ins Kloster kam, ist dafür ein Vorbild. Er hat vorher nur nach den Zahlen gearbeitet – und die Leute haben ihn abgelehnt. Er leitete einen Paradigmenwechsel ein. Es gibt eine Wellenbewegung, die kleinere Unternehmen ebenso erfasst wie die Großen. Auch ein neuer Audi-Chef hat seine Mitarbeiter zu uns geschickt, weil er überzeugt ist: Wir brauchen eine Korrektur.
Zeit für den zweiten Titel: Unterwegs sein.
Anselm Grün: Wir sollten als Menschen immer weitergehen, nie stehenbleiben. Unser Leben ist ein ständiges Unterwegssein. Es ist nicht ratsam, sich auf Erfolgen ausruhen. Das gilt auch für den spirituellen Weg, auf der Suche nach Gott und dem Sinn des Lebens. Der Weg ist etwas Lebendiges, wer auf dem Weg unterwegs ist, ist lebendig.
Pausen sind nicht erlaubt?
Anselm Grün: Kleine Rasten auf dem Weg sind schon wichtig, aber wir sollten nicht stehenbleiben. Eine Rast ermöglicht es uns, still zu werden, innezuhalten, nach innen anschauen, was bewegt uns. Auch der innere Weg ist ein Weg. Die Mystiker haben nicht zuletzt auch den geistigen Weg als Weg bezeichnet.
Wo endet der Blick nach innen, wo fängt Jammern an?
Anselm Grün: Jammern hat nichts mit Innenschau zu tun! Es geht darum, den inneren Raum zu entdecken, die Frage zu beantworten, wo Gott in mir wohnen möchte. Viele Menschen kommen nicht zur Ruhe, weil sie Angst davor haben, dass dann die Wahrheit auftauchen könnten.
Der Titel am dritten Advent lautete: Begegnen.
Anselm Grün: Auf dem Weg begegnen wir Menschen, bekommen neue Anregungen.
Wann haben Sie sich das letzte Mal auf den Weg gemacht?
Anselm Grün: Im Urlaub – ich gehe dann immer wandern, nehme die Natur wahr. Die Bewegung tut auch gut. Wandern hat viel mit Wandeln zu tun, beim Wandern wandle ich mich. Das funktioniert im Wald genauso gut, einem Ort der Geborgenheit, der in der Theologie für das Unbewusste steht.
Haben Menschen die Fähigkeit zur echten Begegnung verloren?
Anselm Grün: Wir haben immer mehr Kontakte, aber keine Begegnungen. Eine echte Begegnung verwandelt immer den Menschen. Dazu gehört, dass ich die Bilder loslasse, die ich vom anderen habe, dass ich ihm so begegne, wie er wirklich ist, wie ich wirklich bin. Wir stehen oft unter Druck, wollen dem anderen imponieren, ihm gefallen. Begegnungen sind zweckfrei, wir begegnen einem einmaligen Menschen.
Der Titel der Ausgabe, in der dieses Gespräch erscheint, heißt: Nach Hause kommen.
Anselm Grün: Viele Menschen sind nicht bei sich zu Hause, sondern immer woanders. Sie sind nicht auf dem Weg, sondern woanders mit ihren Gedanken zerstreut. Wir sollten bei uns selbst zu Hause sein. Die deutsche Sprache verbindet Heim, Heimat und Geheimnis. Wirklich zu Hause kann man nur sein, wo das Geheimnis wohnt. Weihnachten wird nicht umsonst als Familienfest gefeiert. Zu Hause sein ist etwas Größeres, das uns verbindet. Nur schöne Möbel machen kein Zuhause. Menschen müssen offen für das Geheimnis der anderen Menschen und das Geheimnis Gottes sein und bei sich selber zur Ruhe kommen, nicht innerlich auf der Flucht sein.
Kann man vor sich selber fliehen?
Anselm Grün: Ja.
Aber wie lange?
Anselm Grün: Manche machen das immer, aber werden immer unruhiger und gehetzter. Und irgendwann werden sie eingeholt.
Kann man angesichts all der Kriege, des Terrors und des Leids in der Welt überhaupt noch Weihnachten feiern?
Anselm Grün: Gerade in dieser hoffnungslosen Welt voller Graus ist es wichtig, ein Fest zu feiern, um uns die Augen dafür zu öffnen, dass es noch etwas anderes gibt. Das Fest ist Zustimmung zur Welt, nicht Jammer. Wir finden einen Ort, wo ich mich selbst und die Welt anderes erlebe. Mitten in dieser Realität feiern wir bewusst Weihnachten. Die Welt ist mehr als das, was wir in den Medien lesen. Die Wirklichkeit der Welt besteht nicht nur aus den Krisen, die wir ständig hören. Auch in dieser krisenhaften Welt gibt es einen Hoffnungsort.
Ist diese Hoffnung kein Vertrösten auf das Jenseits?
Anselm Grün: Nein, sie ist kein Vertrösten auf das Jenseits. Sie verwandelt jetzt schon mein Leben. Wenn ich jetzt schon voller Hoffnung bin, begegne ich den Menschen anders. Es macht einen Unterschied, ob wir hoffen, dass sich etwas wandeln kann oder wir nur zynisch, depressiv und verzweifelt sind. Hoffnung ist die Form der Lebendigkeit. Solange ich atme, hoffe ich. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn wir keine Hoffnung haben, ist nur noch Tod und Erstarrung.
Was hoffen sie?
Anselm Grün: Dass wir mehr der Weisheit der eigenen Seele trauen als vielen der Botschaften aus den neuen Medien. Dass die Menschen nachdenklicher werden, fähig werden, untereinander und miteinander zu kommunizieren, aufeinander zu hören, anstatt sich selbst und die anderen nur zu bewerten.
Was wünschen Sie sich?
Anselm Grün: Dass wir bei all den Menschen, über die wir schimpfen, einfach einmal zuhören, was sie im Tiefsten bewegt, was hinter dieser Meinung steckt. Auch in der Kirche gibt es Kämpfe zwischen Progressiven und Konservativen. Wir sollten uns fragen, welche Erfahrung steckt dahinter und nicht alles nur auf der Sachebene sehen. Menschen streiten sofort darum, wer Recht hat, anstatt sich die Frage zu stellen, was dahintersteckt.
Pater Anselm Grün OSB ist Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Geboren wurde er am 14. Januar 1945, mit 13 Jahren kam er ins Internat der Abtei Münsterschwarzach. Nach dem Abitur trat er 1964 in das Noviziat der Abtei ein. Pater Anselm Grün ist promovierter Theologe, Betriebswirt und wurde als Autor spiritueller Bücher bekannt, die überwiegend im klostereigenen Vier-Türme-Verlag und im Herder-Verlag erschienen sind. Auch als Führungskräftetrainer ist der Benediktiner gefragt.
Bis 2013 war Pater Anselm als Cellerar für die wirtschaftlichen Belange der Abtei Münsterschwarzach zuständig. Mittlerweile widmet er sich ganz dem Schreiben, seiner Vortragstätigkeit und seinen Kurse im Gästehaus der Abtei. Zudem veröffentlicht er auf YouTube (https://www.youtube.com/channel/UCcVRqViP7BWIVHKiZ0sasEg) und seiner Facebook-Seite (https://www.facebook.com/anselmgruen/) immer sonntags die Auslegung des Evangeliums als Video.