Die Wiege moderner Sozialgesetzgebung

Die Brandts-Kapelle Mönchengladbach ist saniert

Beide Weltkriege überstand die Brandts-Kapelle unbeschadet. Heute ist das Kleinod ein Ort für jene, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. (c) Detlef Ilgner
Beide Weltkriege überstand die Brandts-Kapelle unbeschadet. Heute ist das Kleinod ein Ort für jene, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Datum:
12. Okt. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 41/2021 | Garnet Manecke

Nach fast vierjähriger Sanierungsarbeit erstrahlt die Brandts Kapelle in Mönchengladbach wieder in neuem Glanz. Früher war sie ein Ort für die Arbeiter. Hier wurde der Grundstein für die moderne Sozialgesetzgebung gelegt.

Franz Brandts (c) Stadtarchiv Mönchengladbach
Franz Brandts

Nach dem Bombenhagel im Februar 1945 lag Mönchengladbach in Trümmern. Nur eine kleine Kapelle stand fast unbeschadet mitten in den Schutthaufen ringsum. Die Brandts-Kapelle ist heute noch weitestgehend im Original erhalten. Die kunstvoll gemalten Mosaiken an den Wänden, die Profilierungen an den Säulen und die Engel vor dem türkisblauen Hintergrund im Chorgewölbe: Alles ist so, wie es der Textilunternehmer Franz Brandts zum Gedenken an seinen verstorbenen Sohn Rudolf 1896 hat erbauen lassen. Die Orgel kam 1904 in das Gotteshaus.Ungewöhnlich ist an der Kapelle, die dem heiligen Aloysius gewidmet ist, dass so ein wertvoll ausgestattetes Kirchengebäude vor allem von den „kleinen Leuten“ genutzt wird. Damals von den Arbeitern der benachbarten Textilfabrik, heute von Menschen, die in Armut leben. Der Grund dafür liegt in Brandts’ Einstellung gegenüber seinen Mitarbeitern. Der Unternehmer war davon überzeugt, dass die 
Armut seiner Arbeiter keine gute Grundlage für seinen Geschäftserfolg sei. 
Die soziale Situation der Arbeiter zu verbessern, war ihm aus seinem katholischen Glauben heraus ein Anliegen. Als Unternehmer sah er, dass gesunde Arbeiter, die sich mit dem Unternehmen in hohem Maße identifizierten, produktiver waren. Zusammen mit anderen katholischen Unternehmern gründete er am 24. Oktober 1890 in Köln den „Volksverein für das katholische Deutschland“, das Vorbild für den Volksverein der Gegenwart. Vom ersten Tag an hatte der Volksverein seinen Sitz in Mönchengladbach: im Haus des ersten Vorsitzenden Franz Brandts.

 

Vieles, was Brandts einführte, ist heute Basis der sozialen Gesetzgebung

Die Werkbank wird im Treff am Kapellchen als Altar genutzt. Sie ist ebenso Symbol für die Wurzeln des Volksvereins wie für die „kleinen Leute“. (c) Volksverein
Die Werkbank wird im Treff am Kapellchen als Altar genutzt. Sie ist ebenso Symbol für die Wurzeln des Volksvereins wie für die „kleinen Leute“.

Für die Arbeiter bedeutete der Volksverein eine Menge Neuerungen im Alltag. In der eigenen Druckerei wurden Schriften zum Arbeitsleben, zur Gesundheitsvorsorge und Haushaltsführung gedruckt. Brandts selbst hat mit seinen Vorstandskollegen viele Neuerungen in seinen Fabriken ausprobiert: Krankenkasse, Sterbegeld, Abschaffung der Kinderarbeit, Weiterbildung der Arbeiter in Kursen und Seminaren zu allen möglichen 
gesellschaftlichen und politischen Themen. Was sich in der Praxis bewährte, fand Eingang in die ab 1891 im Deutschen Reichstag verabschiedeten Arbeiterschutzgesetze. Sie sind das Fundament, auf dem die soziale Gesetzgebung von heute fußt.

Brandts führte in seiner Fabrik auch die Reduzierung der Arbeitszeit von den damals üblichen 16 Stunden auf schließlich 8 Stunden ein. Geradezu revolutionär waren die Mitbestimmungsrechte, die der Unternehmer seiner Arbeitnehmerschaft gewährte – alles vertraglich festgehalten.

Die Idee des Volksvereins war zunächst ein Erfolgsmodell. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er rund 80 0000 Mitglieder. Ab 1922 aber verlor er rapide Mitglieder, 1928 stand er vor dem finanziellen Aus. 1933 schließlich wurde der Volksverein von den Nationalsozialisten verboten und aufgelöst.

50 Jahre später gründet der Priester Edmund Erlemann den neuen Volksverein, der sich in der Tradition des historischen Vorbilds sieht. Heute geht es um die Qualifizierung und Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen. Die Stiftung Volksverein ist Trägerin des Treffs am Kapellchen, das mit der Brandts-Kapelle eng verbunden ist. Auch heute finden hier Fortbildungen und kulturelle Veranstaltungen statt – die Arbeiterschaft gibt es so nicht mehr. Die „kleinen Leute“ aber sind noch da.