Seit Jahrzehnten verschlechtern sich die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen Menschen in der Europäischen Union. Staatliche Unternehmen wurden privatisiert, Arbeitsmärkte dereguliert, soziale Sicherungen gekappt und gedeckelt, betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten beschnitten und bekämpft. Die Folge: Immer mehr Frauen und Männer arbeiten unter unsicheren, prekären Bedingungen und können davon eher schlecht leben.
Jean-Claude Auguin hat schon viel gesehen vom Leben. Seit 40 Jahren wohnt er in einem Hochhauskomplex in einem jener Vororte von Paris, die kein Tourist zu Gesicht bekommt. Er lebt dort in Nachbarschaft zu anderen Menschen, die ein geringes Einkommen erzielen. Auguin bezieht eine kleine Rente. Zeit seines Lebens hat er keine großen Sprünge machen können. Er hat immer viel gearbeitet. Und er hat viel mitgemacht. Sein Arbeitgeber wurde privatisiert, die neuen Eigentümer übten Druck aus. Es wurde rationalisiert und umstrukturiert, dass einem schwindlig wurde. Alle Strukturen und Abläufe wurden darauf getrimmt, dass sie mehr Geld erwirtschafteten. Jean-Claude Auguin machte das zornig, weil er sah, dass diese neue Profitabilität auf dem Rücken der Beschäftigten erzielt wurde. Und er musste mitverfolgen, wie bei Zergliederungen und Auslagerungen Menschen auf der Strecke blieben. Sie hielten dem Zeit- und Leistungsdruck nicht stand oder wurden einfach ausgegrenzt, wie zum Beispiel Mitarbeiter mit einer Behinderung.
Jean-Claude Auguin setzte sich für diese Menschen ein, als er ein Kollege war, und jetzt, wo er bereits zehn Jahre Rente bezieht, tut er das immer noch. Den Leuten zu ihren Rechten verhelfen, treibt ihn um. Bei seinem Kampf hat er sich mit Gewerkschaftern zusammengeschlossen. Den großen Kampf haben sie gemeinsam verloren: den gegen die Privatisierung eines Staatskonzerns, der früher vielen Frauen und Männern gute Arbeit gegeben hat. Den kleinen Kampf um die entlassenen Kollegen, die mit ihren Einschränkungen nicht den Effizienzerwartungen der Kapitaleigner Rechnung tragen konnten, haben sie gewonnen. Nun folgt der Kampf, dass Menschen ohne Papiere neue Perspektiven erhalten. Es sieht so aus, als ob dieser Kampf verloren geht. Dieses jahrzehntelange Engagement beeindruckt jeden, der davon hört.
Und noch etwas ist besonders an Jean-Claude Auguin: Er ist ein katholischer Priester. Dass er als solcher mit benachteiligten Menschen lebt und arbeitet, mittendrin, ohne jede klerikale Attitüde, mit ihrer Sprache, mit ihren Nöten, ihren finanziellen Sorgen, ist ungewöhnlich. Auguin steht damit in der Tradition der Arbeiterpriester. Sie beziehen kein Gehalt der Kirche oder der Gemeinde, sondern arbeiten in Fabriken, Subunternehmen, als Klein- oder Scheinselbstständige. Sie kennen die Welt so, wie sie ist, aus Sicht finanziell schlecht gestellter Menschen, die darin ihre Existenz und ihre Würde behaupten. In vielen Ländern Europas gibt es seelsorglich tätige Frauen und Männer, die in dieser Tradition stehen. Sie nennen sich inzwischen Arbeitergeschwister, das ist präziser und bringt den pastoralen Grundgedanken noch besser auf den Punkt. Indem diese häufig aus Mittelschichtsfamilien stammenden Menschen mit den Leuten am Rande der Gesellschaft leben und arbeiten, lernen sie auch von diesen.
In vielen Dingen ist die Erfahrungswelt eine ganz andere als die frühere. Häufig hat der Alltag der geringfügig, untertariflich, prekär Beschäftigten und ihrer Familien wenig mit dem zu tun, was man aus der eigenen bürgerlichen Herkunft her kennt. Und man spürt am eigenen Leib, was es heißt, in der gesellschaftlichen Hackordnung unten zu stehen. Das wirft viele Fragen auf, provoziert kritische Blicke auf unsere Art zu wirtschaften und zu konsumieren. Die Menschenwürde ist vielfach bedroht in der realen Welt.
Der Krefelder Arbeiterpriester Albert Koolen hat wie weitere europäische Arbeitergeschwister den Strukturwandel, der unsere Wirtschaft erfasst, hautnah erlebt. Koolen arbeitete in einer Textilfabrik. Weil er seit Jahrzehnten seine Berufung mit Haut und Haar lebt, widerfuhr ihm dasselbe Schicksal wie Tausenden anderen Beschäftigten hier und dort: Er fürchtete um seine Arbeit, schließlich verlor er sie. Und es war gar nicht einfach, einen neuen Job zu finden, um sein bescheidenes Leben zu finanzieren. Inzwischen arbeitet er in einem Subunternehmen am Düsseldorfer Flughafen. Zu seinen ebenfalls niedrig entlohnten, nicht abgesicherten, sprunghaft eingesetzten Kollegen zählen vor allem Migranten, die heilfroh sind, wenigstens etwas Geld verdienen zu können. Koolen lässt die Zerrissenheit dieser Leute nicht kalt, wirbt dafür, dass sie sich für ihre Interessen einsetzen. Denn die Rechte, die ihnen zustehen, erhalten sie nicht, ohne in den Konflikt mit der Unternehmensleitung zu gehen.
Es interessiert halt niemanden so wirklich, ob die Arbeit würdig organisiert ist, ob sie ein Leben jenseits des Jobs zulässt, ob die Familie ein Auskommen mit dem Einkommen hat. Das muss man halt selbst machen. Lange hat der Kampf gedauert, es sieht so aus, als würde er endlich Früchte tragen. Verbürgte Schutzvorschriften greifen vielfach nicht im Niedriglohnsektor. Wer die Augen aufmacht, sieht, wie sich die Dienstbotengesellschaft durch die Hintertür einschleicht. Der Wandel der Wirtschaft hin zum Dienstleistungssektor enttäuscht Hoffnungen. Die Beschäftigungsquote wächst, diese Statistik kennen die Arbeitergeschwister. Aber aus ihrer ungefilterten Einsicht in die Arbeitswelt vieler am unteren Rand der Einkommen kennen sie auch die Kehrseite dieses Wachstums. Die gehetzten Paketzusteller, welche besser gestellten Menschen im Akkord Wohlstandsware an die Haustür liefern, sind ein Symbol für die Doppelgesichtigkeit der scheinbaren Erfolgsmeldung.
Auch die Digitalisierung erzielt bislang aus Sicht benachteiligter Menschen kaum Vorteile. Sie verstärkt die Rationalisierung in vielen Branchen. Wegfallende Arbeitsplätze werden nicht gleichwertig ersetzt. Plattformökonomien im Versandhandel oder im Verkehrsgewerbe schaffen viele neue Jobs, aber diese sind schlecht bezahlt, schlecht abgesichert, schlecht ausgestaltet. Menschen nehmen diese Jobs an, weil sie keine Alternative haben. Sie müssen häufig nicht nur sich, sondern auch Familien ernähren. Es reicht selten. Gut, wenn ihnen jemand zur Seite steht. Oft genug gibt es diesen Jemand aber nicht. Meistens sogar nicht.