„Die Traumata zeigen sich erst jetzt“

Wie der SKF Kindern hilft, ihre seelischen Verletzungen nach der Flutkatastrophe zu verarbeiten

Ellen Sachsenmaier zeigt die Ergebnisse eines kunsttherapeutischen Angebots, bei dem die Kinder einen sicheren Ort malen sollten. An diesen Ort können sie sich gedanklich zurückziehen, wenn sie Stress oder Angst haben. (c) Caroline Schaefer/Caritas international
Ellen Sachsenmaier zeigt die Ergebnisse eines kunsttherapeutischen Angebots, bei dem die Kinder einen sicheren Ort malen sollten. An diesen Ort können sie sich gedanklich zurückziehen, wenn sie Stress oder Angst haben.
Datum:
11. Juli 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 28/2023

In der Flutnacht vom Juli 2021 haben viele tausend Kinder und Erwachsene traumatische Erfahrungen gemacht und Todesangst ausgestanden. Ihre Häuser werden zwar allmählich wieder aufgebaut, aber die Erinnerungen bleiben. Der Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) in Stolberg unterstützt traumatisierte Kinder seit zwei Jahren mit dem Projekt Traumfänger. Hier gibt es niedrigschwellige kostenlose Angebote für Kinder, um ihnen bei der Bewältigung ihrer Fluterlebnisse zu helfen. Finanziert wird das Projekt unter anderem durch den Rotary-Club Aachen, die Aktion Mensch und den Verein Lichtblicke. SKF-Bereichsleiter Sebastian Simons und Ellen Sachsenmaier, eine der drei Mitarbeiterinnen beim Traumfänger, erläutern den Ansatz des Projektes.

Sebastian Simons: „Traumata können sehr unterschiedlich wirken, und entsprechend individuell muss der Umgang damit sein.“ (c) Caroline Schaefer/Caritas international
Sebastian Simons: „Traumata können sehr unterschiedlich wirken, und entsprechend individuell muss der Umgang damit sein.“

Wie geht es den Menschen zwei Jahre nach der Flut?

Sebastian Simons  Die Flut ist immer noch präsent in Stolberg. Man sieht es an den Straßen, an Baustellen, an so vielen Ecken. Die Menschen, die die Flut miterlebt haben, werden täglich daran erinnert. Hinzu kommt, dass sich die Traumata vielfach erst jetzt zeigen, seit sich die materielle Lage und die Wohnsituation verbessert haben. Zum Beispiel gibt es Kinder, die sich mittlerweile fast jeden Tag wegen Kopfschmerzen oder Übelkeit von der Schule abholen lassen. Zu Hause geht es ihnen dann aber gut. Hier ist das Bedürfnis, nahe bei den Eltern zu bleiben, so übermächtig, dass das Kind die Schule nicht besuchen kann. Mit diesen Nachwirkungen muss man sich aktiv auseinandersetzen.

 

Wie helfen Sie den Kindern, die Erlebnisse zu bewältigen?

Ellen Sachsenmaier  Unser Ziel ist, die Widerstandsfähigkeit der Kinder zu fördern und bei Kindern und Eltern ein Verständnis dafür zu schaffen, warum sie in bestimmten Situationen Angst bekommen und wie sie sich dann beruhigen können. Wir selbst sind keine ausgebildeten Therapeuten. Wenn wir merken, dass ein größerer Bedarf vorhanden ist, sprechen wir mit Kindern und Eltern und vermitteln sie zu anderen Angeboten. Für Kleingruppen von vier bis sechs Kindern bieten wir traumapädagogische Projekte mit Theaterspielen, Sport oder Kunst an. Ergänzt wird das durch therapeutische Angebote von ausgebildeten Therapeuten, darunter Kunsttherapie, ein traumasensibler Schwimmkurs und tiergestützte Therapie. Aktuell nehmen 57 Kinder an den Projekten teil.

 

 

Wie läuft ein solches Angebot konkret ab?

Ellen Sachsenmaier  Bei einem kunsttherapeutischen Angebot haben die Kinder beispielsweise gelernt, sich einen sicheren Ort vorzustellen, der nur ihnen gehört. Dorthin können sie sich gedanklich zurückziehen und zur Ruhe kommen, wenn sie Stress oder Angst haben. Die Kinder sollen sich nicht nur vorstellen, wie der Ort aussieht, sondern auch, was sie dort hören, riechen und schmecken. Denn die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis kann durch alle Sinne ausgelöst werden. Der sichere Ort ist eine Methode, mit diesen Auslösern umzugehen. Dann haben wir die Kinder eingeladen, diesen Ort auf Papier zu bringen. Ein Kind hat Bäume als Tor gemalt, die entscheiden, wer zum sicheren Ort gehen darf und wer nicht. Entsprechend öffnen sich die Bäume oder beschützen vor Menschen, die nicht hineindürfen. Andere Kinder haben Schmetterlinge und Süßigkeiten gemalt – was Kinder eben mit einem solchen Ort verbinden. Es steht den Kindern offen, zu erzählen, was sie gemalt haben. Aber sie können die Bilder genauso für sich stehen lassen.

 

Warum ist dies für die Kinder so wichtig?

Sebastian Simons  Die Kinder bekommen hier Raum und Zeit, um zur Ruhe zu kommen, Vertrauen aufzubauen und zu lernen, über ihre Gefühle und Erfahrungen zu sprechen. Das ist nur möglich, wenn sich die Kinder sicher fühlen. Manchmal ist es nur ein kleines Zeitfenster, in dem ein Kind bereit ist, sich zu öffnen.

 

Viele Kinder haben seit der Flut Angst vor Wasser. Wie bringen Sie diesen Kindern schwimmen bei?  

Ellen Sachsenmaier  Beim traumasensiblen Schwimmkurs nehmen die Kinder Kontakt zum Wasser auf und lernen zunächst, angstfrei Spaß im Wasser zu haben. Das passiert über Spiele. Die Kinder spielen fangen oder tauchen im flachen Wasser nach Ringen. Es geht darum, dass die Kinder nicht bewusst mit dem Kopf unter Wasser tauchen, sondern eher merken: Ich hatte den Kopf unter Wasser, dabei aber gar keine Angst und habe sogar den Ring geholt. Mit der Zeit fühlen sie sich sicherer und merken, dass das Wasser sie trägt, wenn sie ruhig bleiben. Dann lernen sie auch schwimmen. Die Kinder machen extreme Fortschritte. Ich glaube, dass alle bis zum Sommer das Seepferdchen-Abzeichen schaffen.

 

Die Eltern haben bei der Flut ebenfalls traumatische Erfahrungen gemacht. Wie geht es ihnen?

Sebastian Simons  Die Eltern haben in solch einer Flutkatastrophe eine doppelte Betroffenheit. Sie sind selbst traumatisiert und tragen gleichzeitig die Verantwortung für traumatisierte Kinder. Deshalb dürfen wir sie nicht vergessen. Die Traumata zeigen sich teilweise subtil. Viele Eltern können sich zum Beispiel nicht von ihren Kindern trennen. Sie haben das Bedürfnis, ihre Kinder nah bei sich zu behalten, um sie zu beschützen – auch wenn gerade keine Flut ist. Damit sie direkt reagieren können, falls etwas passiert. Das engt die Kinder ein. Mit solchen Situationen muss man umzugehen lernen und Vertrauen in die Welt zurückgewinnen. Das ist ein langwieriger Prozess.

 

Wie lernen Eltern, damit umzugehen?

Sebastian Simons   Einige Mütter haben sehr oft von ihren Fluterlebnissen gesprochen. Deshalb haben wir mit ihnen ein Projekt begonnen, bei dem sie sich treffen und ihre Flutgeschichten zu Papier bringen können. In den eigenen Familien und bei Freunden, die selbst nicht betroffen waren, können viele diese Flutgeschichten nicht mehr hören. Manche brauchen aber genau das: Dass sie die Geschichten immer wieder erzählen können und mit Leuten zusammensitzen, die gut verstehen, was sie erzählen. Die wissen, wie es sich anfühlt, in einem Haus gefangen zu sein und nicht mehr herauszukommen. Trotz der schlimmen Erfahrungen enden fast alle Geschichten positiv mit der großen Hilfsbereitschaft, die nach der Flut herrschte.

Ellen Sachsenmaier: „Durch die Flut sind Kontakte zu Familien entstanden, die wir vorher nicht erreichen konnten.“ (c) Caroline Schaefer/Caritas international
Ellen Sachsenmaier: „Durch die Flut sind Kontakte zu Familien entstanden, die wir vorher nicht erreichen konnten.“

Wie gehen die Kinder damit um, dass ihre Eltern so stark belastet sind?

Ellen Sachsenmaier  Die Kinder versuchen, ihre Eltern zu stützen, die alles verloren haben. Ein Junge hat am Tag nach der Flut seiner Mutter immer wieder über die Hand gestreichelt und wiederholt: „Nicht weinen, Mama, keine Angst, wir kriegen das hin.“ Die Kinder versuchen, ihre Eltern vor dem kompletten Zusammenbruch zu schützen. Aber für die Eltern stark zu sein, ist natürlich eine massive Überforderung. 

 

Wie macht sich das bei Kindern bemerkbar?

Ellen Sachsenmaier  Eine Mutter besucht unser Projekt, weil sie diesen Ort braucht, um über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ihre Tochter dagegen redet mit niemandem über das, was sie erlebt hat. Sie ist in kürzester Zeit erwachsen geworden. Es wirkt, als hätte sie die pubertäre Entwicklung übersprungen und stellt sich jetzt neben ihre Mutter, um auf ihre kleinen Brüder aufzupassen und stark zu sein.

Aber mich würde nicht wundern, wenn da noch etwas aufpoppt und sich zeigt, dass das alles ein bisschen viel ist für so eine kindliche Seele. Aktuell schützt die Tochter sich noch, indem sie es von sich wegschiebt. Das respektieren wir natürlich. Als es letztens längere Zeit geregnet hat, hat sie dagegen gesagt, dass ihr das Angst macht. Vielleicht ist das ein erster Schritt, um sich zu öffnen. Wenn sie bereit ist, darüber zu sprechen, sind wir für sie da.

Sebastian Simons  Das ist ein gutes Beispiel für traumasensibles Arbeiten. Einer Person kann guttun, von etwas zu erzählen, für eine andere Person kann das schrecklich sein. Trauma können sehr unterschiedlich wirken, und entsprechend individuell muss der Umgang damit sein.

Hier in Stolberg kommt hinzu, dass die Hauptbetroffenen ohnehin in prekären Situationen leben. Es gibt einen hohen Anteil an Alleinerziehenden, einen hohen Migrationsanteil, jeder fünfte ist von Arbeitslosigkeit betroffen. Diese Menschen hatten schon vorher nicht die Kraft, sich mit psychischen Problemen auseinanderzusetzen und Hilfe zu suchen. In unseren Projekten merken wir, dass es bei ihnen nicht nur um die Flut geht, sondern um die gesamte Lebenssituation.

 

Ist die Flut vielleicht auch eine Chance, Probleme anzugehen, die schon vorher da waren?

Sebastian Simons  Als selbst Betroffener stelle ich es mir schwierig vor, den Wiederaufbau als Chance zu sehen. Aber es ist eine Gelegenheit, die Gesamtverhältnisse neu und anders zu gestalten. Es wird aktuell an vielen Stellen gearbeitet. Es gibt eine hohe Bürgerbeteiligung und durch die Fluthilfe die finanziellen Mittel zur Umsetzung von neuen Ideen.

Ellen Sachsenmaier  Durch die Flut sind Kontakte zu Familien entstanden, die wir vorher nicht erreichen konnten. Die Flutberaterinnen und -berater erzählen ebenfalls, dass die Flut oft der Aufhänger ist, um Beratung in Anspruch zu nehmen. Im Gespräch kommen dann aber auch andere Probleme wie Arbeitslosigkeit, Wohnungssuche und Existenzängste zum Vorschein.

Das Gespräch führte Katharina Höring, Volontärin bei Caritas international.