Die Geschichte der Menschen, über die sonst keiner spricht

Haus 5 der damaligen Rheinischen Provinzial-  Heil- und Pflegeanstalt Düren war während der  NS-Zeit für forensische  Patienten aus der gesamten Region freigeräumt. (c) Stephan Johnen
Haus 5 der damaligen Rheinischen Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Düren war während der NS-Zeit für forensische Patienten aus der gesamten Region freigeräumt.
Datum:
7. Mai 2025
Von:
Aus der Kirchenzeitung, Ausgabe 17/2025 | Stephan Johnen

Menschen mit geistiger Erkrankung störten aus Sicht der Nationalsozialisten den „gesunden Volkskörper“. Studierende aus Aachen geben Opfern ihren Namen und die Würde zurück. 

Der menschlichen Würde beraubt, zwangssterilisiert oder als „unwertes Leben“ im Rahmen der sogenannten T4-Aktion in die Gaskammern abtransportiert – viele körperlich und geistig behinderte Patientinnen und Patienten gerieten während der NS-Zeit in die Fänge einer Medizin und Ärzteschaft, die ihren Berufsethos, Menschen zu heilen, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „Rassegesetze“ in das Gegenteil verkehrte. Können wir heute, acht Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur, sicher sein, dass sich diese Katastrophe nicht wiederholt? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts Aachener Studierender, die sich mit Schicksalen von Patientinnen und Patienten in der Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Düren während der NS-Zeit auseinandergesetzt haben.

Erst 80 Jahre nach Ende der NS-Diktatur hat der Bundestag am 29. Januar 2025 einen Antrag verabschiedet, dass die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Opfer von Zwangssterilisationen als Verfolgte des Regimes anzuerkennen sind. „Unsere Ergebnisse verdeutlichen die Gefahren, die entstehen, wenn medizinische Ethik und menschliche Werte in den Hintergrund gedrängt werden“, fasst es Luka Kappertz zusammen. Die Studierenden haben sich im Rahmen eines Seminars des Historikers Dr. Christian Bremen mit zufällig ausgesuchten Patientenakten aus dem Archiv des Landschaftsverbands Rheinland beschäftigt und die Biographien und das Schicksal mehrere Aachener, die Opfer der NS-Gesundheitspolitik geworden sind, erforscht. Es sind die Geschichten von Menschen, deren Geschichte lange Zeit nicht erzählt wurde – und die nun als Teil des Projekts „we, the six million“ der Staatskanzlei NRW veröffentlicht werden.

Das zum 1. Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war eines der ersten Gesetze der NS-Regierung, das im Rahmen der sogenannten „Rassenhygiene“ eingeführt wurde. Weitere menschenverachtende Gesetze sollten folgen, um die „arische Rasse“ nicht zuletzt durch Zwangssterilisationen reinzuhalten. Mit Ausbruch des Krieges und knapper werdenden Ressourcen weiteten die Nationalsozialisten auch die systematische Tötung von körperlich und geistig behinderten Menschen stark aus. So wurden beispielsweise in drei Transporten am 9., 11. und 16. April 1940 146 Patienten der Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Düren in das ehemalige Zuchthaus Brandenburg gebracht und dort wahrscheinlich noch am Tag der Ankunft in der Gaskammer ermordet.

 

Auf Spurensuche: Daniel Kamper, Judith Wirth und Luka Kappertz (von links). (c) Stephan Johnen
Auf Spurensuche: Daniel Kamper, Judith Wirth und Luka Kappertz (von links).

Die Untersuchung der Studierenden Timo Bergs, Daniel Kamper, Luka Kappertz, Leon Sondermann und Judith Wirth mit Blick auf zwangssterilisierte Patientinnen und Patienten zeigt, dass die Nationalsozialisten das „Erbgesundheitsgesetz“ auch als Mittel zur sozialen Kontrolle und Stigmatisierung unbeliebter Personen nutzten. Gleichzeitig lässt die stichprobenartige Untersuchung zumindest erkennen, wie die NS-Propaganda es mitunter geschafft hat, Die Untersuchung der Studierenden Timo Bergs, Daniel Kamper, Luka Kappertz, Leon Sondermann und Judith Wirth mit Blick auf zwangssterilisierte Patientinnen und Patienten zeigt, dass die Nationalsozialisten das „Erbgesundheitsgesetz“ auch als Mittel zur sozialen Kontrolle und Stigmatisierung unbeliebter Personen nutzten.

Gleichzeitig lässt die stichprobenartige Untersuchung zumindest erkennen, wie die NS-Propaganda es mitunter geschafft hat, das nationalsozialistische Denkweise in allen Lebensbereichen der Menschen zu festigen. Die Studierenden werfen auch ein Licht auf die behandelnden Ärzte in der NS-Diktatur, die vor dem Hintergrund eines antisemitischen und rassistischen Wertesystem ihre Diagnosen stellten. An gleich zwei Beispielen lässt sich ablesen, dass es auf der einen Seite klare Befürworter und eingefleischte Nationalsozialisten gab, die nach dem Krieg ihre Karriere bedenkenlos fortsetzen konnten, aber auf der anderen Seite auch Ärzte, die Mitmenschlichkeit zeigten und versuchten, manche Patienten vor Sterilisationen oder Schlimmeren zu bewahren – und dennoch in die systematischen Verbrechen des NS-Regimes verstrickt waren.

In anderen europäischen Staaten und einigen Bundesstaaten der USA gab es zu dieser Zeit zwar ebenfalls Gesetze, die eine freiwillige Sterilisation von Menschen mit erblichen Krankheiten ermöglichten, doch von Freiwilligkeit konnte im nationalsozialistischen Deutschland in vielen Fällen keine Rede mehr sein. 

Ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht bestehend aus einem Amtsrichter, einem Amtsarzt und einem Arzt mit Kompetenzen in „Erbgesundheitslehre“ fasste die Beschlüsse, Anträge konnten die betroffenen Personen selbst und eben Amtsärzte sowie Leiter von Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten stellen.

Haus 5 ist ein Symbol für die forensische Psychiatrie. Dort befindet sich heute das Zentrum des LVR-Projektes „Forum Psychiatrie“ zur Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie im Rheinland. Für die dunklen Zeiten steht die doppelt vergitterte Bärenzelle. (c) Stephan Johnen
Haus 5 ist ein Symbol für die forensische Psychiatrie. Dort befindet sich heute das Zentrum des LVR-Projektes „Forum Psychiatrie“ zur Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie im Rheinland. Für die dunklen Zeiten steht die doppelt vergitterte Bärenzelle.

„Den Menschen wurde aus rassenideologischen Gründen ihre Würde genommen. Wir möchten ihnen die Würde zurückgeben, indem wir ihre Geschichten erzählen, von dem Geschehen während der NS-Zeit berichten und die Erinnerung wachhalten“, sagt Daniel Kamper. Die Geschichte der Opfer ist dabei jedoch untrennbar mit der Geschichte der Täter verbunden, von denen die meisten nach 1945 ihre Karriere ohne größere Probleme fortsetzen konnten, während die Opfer mit dem erlittenen Unrecht alleingelassen wurden und sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz hatten. Die Mechanismen des Vergessens, des Verdrängens und der Umdeutung hatten den Umgang mit diesem Kapitel Zeitgeschichte bestimmt, Interesse an einer ernsthaften Aufarbeitung gab es offenbar lange Zeit nicht.

„Die persönlichen Schicksale, die Geschichte der Menschen machen die Verbrechen sehr nahbar. Anders, als nur Zahlenkolonnen und Statistiken zu lesen“, findet Luka Kappertz. „Für uns heute bedeutet dies, eine wachsame Haltung gegenüber der Rolle von Medizin und Wissenschaft in der Gesellschaft einzunehmen und die Lehren aus der Vergangenheit zu reflektieren“, schlussfolgern die Studierenden. „Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass wir so etwas zu verhindern haben“, sagt Daniel Kamper mit Blick auf die im Namen der Medizin während der NS-Zeit verübten Verbrechen. Die Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen bleibe auch heute von großer Bedeutung. „Nie wieder ist jetzt“, sagen die Studierenden unisono.

 

Die Geschichte von „Haus 5“ während der NS-Zeit

Dokumentationszentrum: Regelmäßig finden in Haus 5 Veranstaltungen und Ausstellungen statt. (c) Stephan Johnen
Dokumentationszentrum: Regelmäßig finden in Haus 5 Veranstaltungen und Ausstellungen statt.

Das „Haus 5“ auf dem Gelände der heutigen LVR-Klinik wurde im Jahr 1900 als „Pavillon für 48 irre Verbrecher“ in Dienst gestellt und diente der Unterbringung besonders zu sichernder Patienten. Während der NS-Zeit wurden im Bewahrungshaus vorwiegend Menschen untergebracht, die nach Auffassung der NS-Justiz „verbrecherische Geisteskranke“ waren, aber in der Regel keine psychisch gestörten Schwerkriminelle oder Gewalttäter waren. Die meisten Menschen sind wegen Kleindiebstählen, Betrug, Brandstiftung aber auch wegen Homosexualität oder politischer Vergehen eingewiesen worden. Hierunter befanden sich auch Kommunisten, Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas und während des Krieges Soldaten, die als Fahnenflüchtige und sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ verfolgt wurden.