Die Erlösung der Schöpfung

Ein Gespräch mit Pfarrer Christoph Simonsen über ein ganz besonderes Kreuz

Mit blutdurchtränkten Mullbinden ist die Haut des Lammkadavers am Kreuz umwickelt. (c) Garnet Manecke
Mit blutdurchtränkten Mullbinden ist die Haut des Lammkadavers am Kreuz umwickelt.
Datum:
6. Apr. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 15/2020

„Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“: Im Johannesevangelium (1,29.36) sagt Johannes der Täufer den Satz, als er Jesus am Ufer des Jordan sieht. Das Bild war auch Motiv eines Kreuzes des Künstlers Axel Vater, das die blutige Abbildung eines Lammkadavers zeigt. Die KirchenZeitung sprach mit Citykirchen-Seelsorger Christoph Simonsen über die Bedeutung des Kreuzes, das in seinem Büro hängt. 

Christoph Simonsen begleitet das Kreuz von Axel Vater schon fast 30 Jahre. (c) Garnet Manecke
Christoph Simonsen begleitet das Kreuz von Axel Vater schon fast 30 Jahre.

Der Körper an dem Kreuz: Ist das ein richtiges Lamm?

Was Sie sehen, ist Mullbinde wie aus einem normalen Erste-Hilfe-Kasten, die dann im Blut eines Lammes getränkt wurde. Daher kommt die bräunliche Farbe. Unter den Mullbinden liegt die Haut, die mit Füllmasse gefüllt wurde. Letztens hatte ich Besuch von Schülern, und einer hatte eine Interpretation, die ich toll fand. Er sagte ganz einfach: „Das sieht ja aus wie ein Kokon. Da kommt bestimmt ein Schmetterling raus.“ Dieses tolle Bild der Auferstehung nutze ich seitdem sehr gerne.

 

Wie sind Sie auf dieses Kreuz gestoßen?

Das Kreuz ist seit den 1990er Jahren in meiner Hand. Damals war ich noch Krankenhauspfarrer im Maria Hilf in Mönchengladbach und organisierte eine Ausstellung in der Fastenzeit. Axel Vater hat neben anderen Arbeiten auch dieses Kreuz aufgestellt. Ich habe den Künstler dann gefragt, ob ich es für den Karfreitagsgottesdienst noch nutzen könne. Weil in seinem Atelier kein Platz war, blieb das Kreuz bei mir. Ich habe es dann zur KHG in Aachen (Katholische Hochschulgemeinde, Anm. d. Red.) mitgenommen, und es hat dort 15 Jahre sichtbar in meinem Büro gehangen. Das Kreuz hat immer wieder zu Gesprächen Anlass gegeben und zu guten Glaubensgesprächen in einer fragenden Art und Weise geführt. Vor seinem Tod 2014 durfte ich Axel Vater nochmal besuchen. Er fragte mich, ob er mir das Kreuz anvertrauen dürfe. „Ich würde mich freuen, wenn es nicht irgendwo im Keller verschwindet“, sagte er mir. Das habe ich ihm versprochen. Als ich dann hierhin in die Citykirche kam, habe ich gleich gesehen, dass die Wand in meinem Büro ein guter Platz ist.  

 

Was sagt dieses Kreuz, was andere Kreuze nicht sagen?

Was es ganz klar und unmittelbar zum Ausdruck bringt: Da hängt ein Geschöpf am Kreuz. Man kann gar nicht sagen, ob es ein Mensch oder ein Tier ist. Es ist irgendeine Art von Geschöpf. Mir ist an diesem Kreuz nochmal sehr stark bewusst geworden, dass die ganze Schöpfung erlöst worden ist durch den Kreuzestod Jesu. Nicht nur der Mensch ist erlöst.  

 

Kann man angesichts der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Gottesdienstverboten noch von Erlösung sprechen?

In Krisen waren die Kirchen bisher Versammlungsorte, an denen die Menschen zusammen im Glauben Trost fanden und sich gegenseitig stützen konnten. Das fällt jetzt weg.  Das stimmt natürlich. Aber dem gegenüber steht eine ganz neue Erfahrung. Nämlich die der Verbundenheit über Grenzen hinweg. UNO-Generalsekretär António Guterres hat in einem Beitrag vor einigen Tagen gesagt, dass diese Corona-Krise dazu führen müsste, dass alle Kriege unterbrochen werden, weil durch die Pandemie die ganze Welt eigentlich nur einen Kampf führen sollte, nämlich den gegen das Covid-19-Virus. Ich glaube, die Menschen spüren eine neue Form von Globalisierungserfahrung und wie eng wir beieinander sind. Wir müssen jetzt räumlich auseinander bleiben, fühlen aber eine ganz neue Form von Verbundenheit zueinander. So dass selbst Kriegsgegner die Erfahrung machen, wir müssen irgendwie zusammenhalten. Dass wir über Unterschiede hinweg miteinander verbunden sind, ist, finde ich, eine ganz wesentliche Erlösungserfahrung. Die Kirchen mögen leerer sein, aber ich spüre sehr viel Verbundenheit. Auch zu Menschen, die ich bis vor Kurzem gar nicht kannte. Verbundenheit macht stark. 

 

So eine Krise, wie wir sie erleben, wäre doch auch eine Chance für die Kirche, weil die Menschen den Wunsch haben, sich zu versammeln – unabhängig davon, wie gläubig sie sind. 

Ja, das erlebe ich hier. Deswegen bin ich ja so gerne an der Citykirche. Weil hier Gäste wirklich aus Interesse, aus Neugierde, aus einer inneren Suchbewegung kommen. Dass die Leute aus eigenem Antrieb den Wunsch haben, sich mit Kirche vertraut zu machen, finde ich sehr wertvoll. Ich halte einmal im Monat den Spätgottesdienst Sonntagabend um 21 Uhr. Die Kirche ist nicht voll, aber es kommen ganz gezielt Leute, die sagen, diese Form von Gottesdienst möchte ich für mich aufnehmen, um gestärkt in die neue Woche reinzugehen. Das sind Personalgemeinden, und ich glaube, dass diese Gemeinden auch eine Zukunft haben. Heute suchen sich die Leute die Orte, wo sie Gottesdienst feiern und ihren Glauben mit anderen teilen wollen. Deshalb finde ich es auch so traurig, dass die Veranstaltungen zu Ostern alle abgesagt wurden, weil die Vielfalt der Gottesdienstformen so eingeschränkt ist.   

 

Ostern ist das Kreuz das zentrale Thema. Aber welche Rolle spielt das Kreuz im Alltag für die Menschen?

Ich beobachte, dass die Besucher der Citykirche eher vor der Pietà stehen bleiben als vor dem Kreuz über dem Altar. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das Leiden der Mutter für die Menschen eher nachvollziehbar ist als das Leiden Gottes.

 

Im Dezember vergangenen Jahres gab es um das Kreuz von Axel Vater große Aufregung. Einige Gläubige hatten sich über die Darstellung empört. Welche Auswirkungen hatte das?

Nach der ersten Berichterstattung sind ganz viele Besucher gekommen, um sich das „furchtbare“ Kreuz anzuschauen. Sie kamen in die Kirche, sahen dann das wunderbare Kreuz über dem Altar und sagten: „So schlimm ist es doch gar nicht.“ Das Kreuz in meinem Büro haben sie gar nicht entdeckt. Die Aufregung ging nur von einigen ganz wenigen aus. 

 

Ich finde das Kreuz von Axel Vater etwas befremdlich.

Gerade das ist auch die Kraft dieses Kreuzes. Auch mir ist es bis heute befremdlich, obwohl ich es so oft anschaue. Das macht es mir auch so wertvoll, mich in meinem eigenen Glauben nochmal zu hinterfragen.

 

Inwiefern regt das Kreuz an, seinen Glauben zu hinterfragen?

Es führt einem vor Augen, was damals auf Golgota passiert ist. Bei der Feier des Triduum wird der Karfreitag leicht schnell übersprungen, weil alle Leute schon auf den Ostermorgen warten. Am liebsten wird schon Samstagabend um 17 Uhr die Osternacht gefeiert. Das Aushalten des Karfreitaggeschehens, dass Gott sich solidarisiert mit all dem Leid und all der Ungerechtigkeit in der Welt, ist für mich auch eine Form der Solidarität mit den Menschen, die mit vielen Fragen über ihr Leben und ihren Glauben kommen.

 

Würde der Glaube heute auch ohne Kreuz funktionieren?

Nein, das Kreuz ist ein Zeichen der Solidarität Gottes mit der Welt. Wäre diese Solidarität Gottes mit den Gekreuzigten nicht, dann hätten wir ein anderes Gottesbild.

 

Aber wandelt sich das nicht sowieso? Früher hingen in den Wohnungen noch Kreuze im Flur, Schlafzimmer oder Wohnzimmer. Heute sind sie oft nur noch Schmuck oder Dekoration.

Die Inflation der Kreuze führte dazu, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden. Das Bild des Waldes, den man vor lauter Bäumen nicht sieht, ist an dieser Stelle sehr treffend. Wenn wir wollen, dass das Kreuz wieder an Bedeutung gewinnt und mit unserem Glauben verbunden wird, müssen wir wieder dafür sorgen, dass es wieder als das wahrgenommen wird, was es ist: ein Solidarzeichen Gottes mit dem Leid dieser Welt.

 

Das Gespräch führte  Garnet Manecke.