Die Bilder in meinem Kopf

In der Citykirche Mönchengladbach eröffnet am 26. Juni eine so experimentelle wie inklusive Ausstellung

Das Logo der Ausstellung „Kopfkino“ ist aus einem Bild der Wanderausstellung „Schubladen“ entwickelt worden. (c) Meike Hahnraths
Das Logo der Ausstellung „Kopfkino“ ist aus einem Bild der Wanderausstellung „Schubladen“ entwickelt worden.
Datum:
26. Mai 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 21/2021 | Garnet Manecke

Was für ein Bild mache ich mir von einem Menschen, wenn ich nur seine Stimme höre, ihn aber nicht sehe? Welche Vorurteile prägen das Bild? Nehme ich etwas wahr, was mir sehend nicht auffällt? Um diese Fragen dreht sich die Ausstellung „Kopfkino“ von Meike Hahnraths in der Citykirche. Alle Beteiligten, inklusive der Besucher, sind dabei Teil eines Experiments.  

Im ersten Teil der Ausstellung erwarten die Besucher die Hörporträts mit den Originalstimmen der Interviewten. (c) Meike Hahanraths
Im ersten Teil der Ausstellung erwarten die Besucher die Hörporträts mit den Originalstimmen der Interviewten.

Wie soll man über eine Ausstellung schreiben, die man erstens noch gar nicht selbst gesehen hat und bei der es zweites gar nicht so auf das Sehen im eigentlichen Sinne ankommt? Eine Ausstellung, die man in weiten Teilen nur hört und in der die Menschen die Bilder vor allem in ihren Köpfen produzieren? Eine Ausstellung, die für jeden anders aussieht? Wie funktioniert das? Die Antwort: „Keine Ahnung, wir versuchen es trotzdem.“ Denn was da ab 26. Juni für sechs Wochen in der Citykirche passiert, ist spannend wie das Leben selbst. Es geht um eigene Vorurteile, negative wie positive, und darum, Dinge aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen.

Dass in diesem Zusammenhang nicht von „sehen“ geschrieben wird, hat seinen Grund: Einige der Protagonisten sind blind. Egal, wem sie begegnen, sie müssen ihr Gegenüber allein über die Stimme und andere Wahrnehmungen einschätzen. Eine Rolle, die auch die Besucher im ersten Teil der Ausstellung einnehmen, wenn sie ebenfalls „blind“ andere Menschen kennenlernen. Aber keine Angst: Niemand wird mit geschlossenen oder verbundenen Augen durch die Citykirche stolpern müssen.

Der Versuchsaufbau. Sechs Menschen stellen jeweils zwei Menschen, die sie nicht kennen, Fragen. Zehn Minuten dauern die Interviews. Währenddessen sehen sich die Fragesteller (Profiler) und die Interviewten nicht. Nach dem Gespräch geben die Profiler eine Charakterisierung der gerade interviewten Person ab. Wie stellen sie sich den Menschen vor, wie sieht er aus, was macht der Mensch beruflich? Das besondere bei dem Versuchsaufbau: Drei Profiler sind blind, die anderen drei sehend.

Bei der Auswahl der Profiler hat die Künstlerin Meike Hahnraths einige Kriterien festgelegt: drei Frauen, drei Männer. Drei sollten blind sein, drei sehend. Allen gemeinsam ist, dass sie in Berufen arbeiten, in denen die richtige Einschätzung ihres Gegenübers maßgeblich für den Erfolg ist. So haben eine Richterin, ein Richter, eine Gesundheits- und Krankenpflegerin in der Psychiatrie, ein Physiotherapeut, ein Seelsorger sowie eine Rektorin Fragen gestellt. Im Prinzip durften sie ihre Interviewpartner alles über deren Leben und ihre Persönlichkeit fragen. Die Interviewten durften alles über sich frei erzählen. Nur Fragen und Beschreibungen des Aussehens waren tabu. „Die drei blinden Profiler habe ich kalt akquiriert“, erzählt Meike Hahnraths. Sie habe sie bei ihrer Recherche im Internet gefunden. Die sehenden Profiler dagegen hat sie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis angesprochen.

Auch bei der Suche nach den Interview-Partnern stellte sich Hahnraths eine bunte und inklusive Mischung vor. Alter, Ethnien, sexuelle Orientierung, Bildungsgrad, mit und ohne Behinderung und diverse Geschlechtsidentitäten: Je heterogener, umso besser. „Ich habe teilweise die Leute direkt gefragt, wenn ich ihnen zufällig begegnet bin, und dachte, dass es passen könnte“, sagt Meike Hahnraths. „Aber viele hatte ich schon bei Ausstellungen oder in einem anderen Zusammenhang vorher kennengelernt.“ Auch hier musste sie sich bei einigen aktiv auf die Suche machen. So hat sie die Transgender-Personen unter den Befragten durch Recherche gefunden. „Alle haben sofort zugesagt, mitzumachen“, freut sich Hahnraths. Nur ein Seelsorger habe abgesagt, weil er sich während der Projektzeit im Ausland aufgehalten hat.

Die Interviews wurden in Bild und Ton aufgenommen. Dabei wurden sowohl die Profiler als auch die Interviewten befragt, wie sie die Situation empfunden haben. Nach den Gesprächen haben die sehenden Profiler ihre Interviewpartner gesehen – der Sichtschutz wurde weggenommen. 

Die Idee. Im Prinzip ist „Kopfkino“ eine logische Fortsetzung eines früheren Kunstprojekts von Meike Hahnraths. Mit „Schubladen“ war die Mönchengladbacher Künstlerin im September 2018 zu Gast in der Citykirche. Für diese Wanderausstellung hat sie Menschen mit und ohne Behinderung fotografiert. Nur anhand der Porträts sollten Besucherinnen und Besucher einschätzen, um was für eine Person auf dem Foto es sich handele. Drei Charakterisierungen gab es jeweils zur Auswahl. Mit der Ausstellung vor drei Jahren hat Hahnraths das Schubladendenken thematisiert.

„Kopfkino“ geht einen Schritt weiter: Wie stellt man sich Menschen vor, die man nicht sieht? Welche Bilder entwickeln sich im Kopf? Worauf konzentriert man sich, wenn das Sehen fehlt? Was fließt neben der reinen Information des Gesagten noch ein in die Beurteilung? Der Klang der Stimme, ihre Dynamik, ihre Lautstärke? Wie beeinflussen die eigenen Erfahrungen und Vorurteile die Bilder, die wir uns von unbekannten Menschen machen?
„Man lernt sehr viel dabei“, sagt Meike Hahnraths. Zum Beispiel, dass Blinde die Armbinden meist nicht mögen, weil sie sie stigmatisieren. Und dass viele die Bedeutung der Punkte nicht kennen. „Mir war nicht bewusst, dass ein Punkt oben und zwei unten bedeutet, dass die Tragenden sehen, aber nicht hören können“, sagt sie.

Auch der Perspektivwechsel, wenn die blinden Profiler von ihrem Alltag erzählt haben, hat Hahnraths einige neue Einsichten beschert. Zum Beispiel, dass blinde Personen nicht angefasst werden wollen, wenn man ihnen hilft – schon gar nicht ungefragt. Auch mit einigen Übergriffigkeiten sind Blinde konfrontiert, die nicht zur Realität von Sehenden gehören. „Einer erzählte, dass er irgendwo hingeführt wurde, wo er gar nicht hinwollte“, berichtet Hahnraths. Wie es ist, wenn man nichts sehen kann, hat die Künstlerin bei sich zu Hause ausprobiert. „Ich habe oft versucht, auch Dinge zu machen, ohne zu sehen“, sagt sie. „Aber dass ich nicht sehen konnte, hat bei mir richtig Panik ausgelöst.“ Für die Besucher der Ausstellung hat die Künstlerin ein Heft entwickelt mit verschiedenen Selbstversuchen, das zum Preis von 2,– Euro erworben werden kann.

Die Ausstellung.  Durch drei Abteilungen führt die Ausstellung ihre Besucher. Im ersten Teil sieht man nur schwarze Tafeln mit den Bezeichnungen H01 bis H12. Dahinter verbergen sich die Hörporträts. Die Besucher hören sich die Aussagen und Originalstimmen der porträtierten Menschen an und merken, dass diese Person in ihren Köpfen Gestalt annimmt. Willkommen im Kopfkino!

Im zweiten Teil der Ausstellung sehen die Besucher nur die Porträtbilder der Menschen, deren Stimmen sie gerade gehört haben. Aber welches der Schwarz-Weiß-Porträts gehört zu welcher Geschichte? Wen finde ich sympathisch, wen weniger? Welche Geschichten entstehen beim Anblick der Gesichter in meinem Kopf?

In der Abteilung 3 schließlich ist ein 17-minütiger Film zu dem Projekt zu sehen. Er zeigt die Entstehung, das Foto-shooting für die Porträts und die Interviews. „Für uns alle war das Projekt ein Experiment“, sagt Hahnraths. Ein Experiment, das mit der Ausstellung selbst weitergeht. Denn auch die Besucher sind Teil dieses Experiments. Wie werden sie reagieren? Was nehmen sie für sich mit? 

Und die Auflösung?  Tja, welches Gesicht gehört nun zu welchem Hörporträt? Die Auflösung gibt es in einem Notizbuch, das zur Ausstellung erworben werden kann. Darin ist neben einer Beschreibung des Projekts auch Platz, um sich zu jedem Hörporträt persönliche Notizen machen zu können. Einzig, welcher Profiler die Fragen gestellt hat, ist auf den Notizseiten zu sehen.

Natürlich sind auch die Fotoporträts in dem Notizbuch abgedruckt. Damit sie nicht versehentlich vorzeitig aufgeblättert werden, sind die Seiten „versiegelt“. Mit einem leicht zu entfernenden Klebestreifen wurden sie zusammengeklebt. Die Auflösungen schließlich stecken in einer Klappseite. Aber die Besucher seien von der Künstlerin selbst gewarnt: „Gib der Versuchung nicht nach und lauer vorab! Du verdirbst Dir den ganzen Spaß!“ steht in fetten Lettern vor den zusammengeklebten Seiten.

Mit seinen Notizen macht man aus dem Notizbuch seinen eigenen individuellen Katalog zur Ausstellung. Diejenigen, die das Notizbuch nicht erwerben möchten, können in der Ausstellung die Auflösung kostenlos einsehen.

Eine erste Vorstellung.  Es kann gut sein, dass jetzt einigen Leserinnen und Lesern der KirchenZeitung der Kopf schwirrt. Einen kleinen Eindruck davon, wie das Ausstellungsexperiment entstanden ist und was die Besucher erwartet, geben erste Videoclips auf der Seite des Kunstprojekts. Unter www.kopfkino.club kann man schon mal in das Projekt eintauchen. Für Blinde werden die Fotos und Grafiken beschrieben. Zudem gibt es noch einige Tipps und Anregungen für Einzelbesucher und Gruppen, wie man die Ausstellung auf unterschiedliche Weise erleben kann. 

Und was ist mit Hörgeschädigten?  Das Kernthema der Ausstellung ist die Inklusion jedes Menschen. Also, wie nun können Hörgeschädigte eine Ausstellung erleben, in der das Gehör der Besucher eine so zentrale Rolle spielt? Auch daran haben die Künstlerin und ihr Team gedacht: Für Hörgeschädigte wurden die Informationen und alle Hörporträts in Gebärdensprache übersetzt. Die Videos laufen in der Ausstellung, so dass auch Hörgeschädigte die Ausstellung besuchen können.

Und was soll das Ganze?  Wie schon gesagt: Es geht um Inklusion und darum, sich seine Vorurteile bewusst zu machen. Vorurteile hat jeder, sowohl positive als auch negative. In der Ausstellung wird man direkt drauf gestoßen und angeregt, das zu hinterfragen. „Ich nehme aus dem Projekt mit, mich noch neutraler aufzustellen“, sagt Meike Hahnraths. „Beim Kopfkino geht es ja nicht nur darum, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Es geht auch zum Beispiel um verschiedene Ethnien und Geschlechtsidentitäten.“
In ihrer Arbeit als Fotografin hat sie gelernt, dass sie mit blinden Personen etwas anders arbeiten muss, wenn sie sie fotografiert. „Sehende nehmen den Kontakt mit der Kamera über den Blick auf“, sagt Hahnraths. „Aber wenn ich will, dass ein blinder Mensch in die Kamera schaut, dann muss ich das akustisch machen.“ Manchmal reicht ein Fingerschnipp, um vermeintliche Grenzen zu überwinden.

 

Info

Eröffnet wird „Kopfkino“ am 26. Juni in der Citykirche Alter Markt, Kirchplatz 14, 41061 Mönchengladbach. Gladbach ist die erste Station der Wanderausstellung.
Besuch Bis zum 6. August ist sie jeweils dienstags bis samstags 10 bis 18 Uhr, sonntags zu den Gottesdienstzeiten geöffnet. Der Eintritt ist kostenlos.
Information unter www.kopfkino.club 
Wer die Wanderausstellung selbst präsentieren möchte, kann sich an info@kopfkino.club wenden.

Lothar B., Profiler

(c) Meike Hahnraths

Seit 1985 ist Lothar Richter im Strafrecht. Leicht lässt sich der 66-Jährige nicht beeindrucken. Und doch, sagt Lothar, muss er immer wieder seinen ersten Eindruck neutralisieren und sich eigenen Vorurteilen stellen. Das hat er auch in diesem Projekt gemerkt. Bei seinen Interviews hatte Lothar bei einem Gesprächspartner direkt das Gefühl, dass er ihn kannte. „Das Gespräch fluppte“, sagt er. „Und hinterher habe ich tatsächlich festgestellt, dass ich ihn kannte.“ Im Vorfeld hat er sich ein Fragegerüst zurechtgelegt. Das aber brach beim zweiten Interview schnell zusammen. Denn die Stimme passte nicht zum Namen der Person. Weil er sein Gegenüber aber nicht gesehen habe, sei er offener in das Gespräch gegangen, ist Lothar sicher. „Ich habe nochmal gelernt, dass man auf den ersten optischen Eindruck nicht so viel geben darf.“ 

Petra B., Profilerin

(c) Meike Hahnraths

In einem Interview hat Petra sofort eine Verbundenheit mit ihrem Gegenüber gespürt. „Ich konnte mir genau vorstellen, was das für ein Typ ist und wie sie aussieht“, sagt sie. Petra ist seit 21 Jahren Familienrichterin, und sie ist blind. „Ich bin darauf trainiert, Fragen zu stellen und mir ein Bild zu machen“, sagt sie. Sie findet es anstrengend, andere davon zu überzeugen, dass es für sie ein „geht nicht“ nicht gibt. Sie sucht nach Lösungen. „Die Möglichkeit von Vielfalt zu denken, finde ich toll“, sagt sie. Dieser Aspekt hat ihr an dem Projekt gefallen. „Es ist toll, wenn man die Person nicht defizitär sieht. Sie macht es anders, aber deshalb nicht schlecht“, betont Petra. In ihrem Fall wird ein fehlender Sinn eben einfach durch andere kompensiert.

Stefanie A., Interviewte

Stefanie (im Bild nur von hinten zu sehen, weil sie anonym bleiben soll) ist tief beeindruckt aus dem Interview gegangen. „Obwohl mir die Profilerin allgemeine Fragen gestellt hat, hat sie mich total richtig charakterisiert“, sagt sie. Die Profilerin habe wissen wollen, ob sie, Stefanie, lieber in den Norden oder Süden in den Urlaub fahre. Oder ob sie lieber Wein oder Bier trinke. Genau wie ihre Profilerin hat Stefanie sofort gespürt, dass eine Verbindung entstanden ist. „Aus meinen Antworten hat sie sich den Menschen zusammengebaut“, sagt Stefanie. „Und ich fand es faszinierend, dass sie es so genau auf den Punkt gebracht hat.“ Dass sie jemand so schnell so richtig einschätzen könne, hat sie überrascht. „Ich glaube, ich hätte das nicht gekonnt.“