Die Bedeutung der Stoffe

Zur Heiligtumsfahrt sind Menschen eingeladen, Kleidung oder andere Tücher mit Geschichte beizusteuern

(c) Sannse via wikimedia commons
Datum:
12. Apr. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 15/2023

Die Aachener Heiligtümer sind sehr stofflich: das Kleid Mariens, die Windel Jesu, das Lendentuch Jesu und das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Auch im Alltag von Gläubigen gibt es Kleidungsstücke oder Tücher, mit denen sie eine tiefe Verbundenheit haben. 

Sie sind meist mit einem Stück Lebensgeschichte verwoben. „Wir wollten auch den Stoffen und Geschichten nachspü̈ren, die den Menschen heute wichtig sind“, betont Dompropst und Wallfahrtsleiter Rolf-Peter Cremer. So ist in Kooperation mit der Bleiberger Fabrik und mit Unterstü̈tzung des Diözesanverbänderats die Kunstaktion „Stoffgeschichten – Intervention im öffentlichen Raum“ entstanden. Für die Heiligtumsfahrt 2023 wird der Künstler Garvin Dickhof eingesandte geschichtsträchtige Stoffstücke von Pilgerinnen und Pilgern zu einem vier Meter großen Ball zusammennähen und verarbeiten. Dieser wird am 11., 14., 15., 17. und 18. Juni jeweils um 17 Uhr durch die Stadt gerollt. Auch der Entstehungsprozess kann live verfolgt werden: In einem offenen Aktionsatelier in der Annahalle in Aachen, Annastraße 14–16, bei Görg & Görg. Einsendungen von Stoffen und ihren Geschichten sind bis 31. Mai an die Bleiberger Fabrik, Bleiberger Straße 2, 52074 Aachen möglich. Wer beim Rollen des Balles unterstützen möchte, sendet eine kurze E-Mail an: heiligtumsfahrt@bleiberger.de.

„Damit dieses Projekt gelingen kann, brauchen wir Sie! Senden Sie uns Ihre Stoffe zu und Ihre Geschichten. Wir erzählen sie auf der Website der Heiligtumsfahrt, in den Sozialen Medien beim Aachener Dom, dem Bistum Aachen und der Bleiberger Fabrik“, laden Birgit Frank und Dompropst Rolf-Peter Cremer ein. Die KirchenZeitung stellt in dieser Ausgabe einige Beispiele zur Inspiration vor.

Das Pilgertuch

(c) Bistum Aachen

Seit 2014 liegt es in meiner Erinnerungskiste. Dieses Stück Stoff ist größer als viele andere Dinge darin, grün wie ein dunkler Wald. Als ich es bekommen habe, war es auch dunkel, kalt und nass. Wir bauten gerade unseren Pavillon für die Nacht der Jugend auf, als jemand mit den Pilgertüchern vorbeikam. Es regnete – wie so oft in Aachen – nicht in Strömen, sondern langsame, kleine Tropfen von allen Seiten. So hatten wir uns das Ganze nicht vorgestellt, aber wir waren gut mit Regenjacken und Tee vorbereitet.

Die Woche davor hatte ich in meinem Praktikum einen Workshop für diese Nacht gestaltet: Mit Samen und Erde wollten wir einen kleinen Beitrag zur Biodiversität leisten und mit anderen jungen Menschen „Flowerballs“ formen und ins Gespräch kommen. Ich hatte Spaß daran, in unserer Gruppe und mit ganz Fremden zu matschen. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Es fiel ganz leicht, mit ihnen in Kontakt zu treten, denn wir alle waren verbunden, auch wenn jeder einen eigenen Knoten gemacht hatte: mit dem gleichen Stück Stoff im Haar, um den Hals oder das Handgelenk gebunden. Nach unserem Workshop gingen wir in den gemeinsamen Abschlussgottesdienst. Es war spät, und ich war müde, doch die Atmosphäre im Dom gab mir einen Aufschwung. Gemeinsam saßen alle im Kreis auf dem Boden des Doms, der mit roten Teppichen ausgekleidet war, um ein Podest. Die Stimmung war mitreißend, ich lauschte, sang, lachte und kehrte in mich.

Nach dem Impuls blieb ich noch eine Weile sitzen und ließ alles auf mich wirken. Es glitzerte und leuchtete überall von den Wänden, der Kuppel und den Menschen. So bleibt mit dem grünen dunklen Stoff ein strahlender Abend im Gedächtnis.

Lisa Morgenstern

Eine Jeanshose

(c) Bistum Aachen

Es handelt sich hierbei um eine Jeanshose. Diese habe ich super gerne getragen. Sportlich chic. Die Hose war dann irgendwann abgenutzt. Mehrfach ausgebessert und für die Gartenarbeit verdonnert.

Dann kam die Flutnacht. Ich war live in Gemünd dabei, unreal die Wassermassen. Am nächsten Morgen sah das Städtchen aus wie in einer Apokalypse. Schnell war für mich klar: Ich helfe meinen Freundinnen, die mehr als den Garten geflutet hatten. Die Hose kam zum Einsatz, ein altes T-Shirt und Gummistiefel.

Wochenlang habe ich nach der Arbeit freiwillig geholfen. Keller mit entschlammt, gesäubert, Müll entsorgt. Geredet und getröstet. Alles irgendwie unfassbar, aber auch wunderbar: der Zusam-menhalt der Betroffenen und der Helfer.Die Hose kam fast jeden Tag zum Einsatz. Abends ausgeklopft, gewaschen, wieder angezogen.

Dann endlich. Die Caritas Eifel wird in der Fluthilfe für Betroffene aktiv. Ich bin dabei. Berate Flutbetroffene. Sozialpsychologisch, bei Anträgen an das Land NRW und bei Spenden.

Dorothea Gehlen

Das Abschluss-T-Shirt

(c) Bistum Aachen

Das Motto meiner Klasse 10 a) – „Abschlussjahrgang 2013 – Jetzt werden die Karten neu gemischt“: Ich verbinde mit meinem Abschluss T-Shirt sehr schöne und lustige Schuljahre zusammen mit meinen bis heute noch engsten Freundinnen. In diesen sechs Jahren hat man so einiges gelernt und erlebt. Neben zwei Musicalaufführungen, jährlichen Sportwettbewerben, einer Klassenfahrt auf dem Ijsselmeer, untypischen Unterrichtsfächern wie Textilkunde und Hauswirtschaftslehre usw. war es vor allen Dingen die Klassengemeinschaft und das tägliche „Herumalbern“ mit meinen Mädels in der Pause, die mich gerne an meine Schulzeit zurückerinnern lassen. 2023 ist unser Abschluss bereits 10 Jahre her, und ich hoffe sehr auf unser erstes Klassentreffen, an dem wir alle die bereits erlebten Geschichten neu aufblühen lassen können.

30 Mädels auf einem Haufen waren immer etwas Besonderes, und es war nie langweilig untereinander in der Klasse. Bei unserem Abschlussmotto und dem Motiv haben wir uns damals besonders viel Mühe gegeben. Wir wollten uns selbst etwas ausdenken und nicht auf bereits vorhandene Beispiele aus dem Internet zurückgreifen. Bei unserem letzten Schultag hat sich jede Mitschülerin handschriftlich auf allen T-Shirts verewigen können. Dies vollendete unsere Abschluss-T-Shirts.

Durch die geplante Schließung der Mädchenrealschule bekommt mein T-Shirt eine noch tiefere Bedeutung. Es bleibt ein Stück der Erinnerung und der Verbundenheit zu meiner Schulzeit. Für mich hat sich nach dem Abschluss ein erfolgreiches Kapitel geschlossen, und meine Karten haben sich hinsichtlich Freundschaften, Wechsel auf ein Gymnasium, wachsender Erfahrungen etc. neu gemischt. Und nun sind es die Karten der Mädchenrealschule, die sich neu mischen werden.

Nadine

Der Bademantel

(c) Bistum Aachen

Vor vielen Jahren war Frau F. bei mir in der Trauerbegleitung. Plötzlich war ihr Mann mit 65 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben.

Für Frau F. war das sehr schwer. Der Mensch, mit dem sie über 40 Jahre ihr Leben geteilt hatte, mit dem sie Ideen, Überzeugungen und die kleinen Geschichten aus dem Alltag besprochen hatte, fehlte. Auch die körperliche Nähe vermisste sie schmerzhaft. Sie erzählte mir, wenn es ihr ganz schlecht ging, dann gehe sie zur Sauna, wo sein Bademantel noch hänge, und dann kuschle sie sich in den Bademantel und könne weinen. Der Stoff des Bademantels, an dem sein Geruch noch wahrnehmbar sei, tröste sie. Es entstünden dann Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit, und nach einer Weile, wenn die Tränen versiegten, fühle sie sich ein kleines Stückchen befreit.

Beatrix Hillermann

Info

Der Künstler Garvin Dickhof reißt schlichte Alltagsmaterialien wie Gliedermaßstäbe und Holzklötze aus ihrem Alltag heraus, ebenso wie der Betrachter kurzzeitig dem allzu Gewöhnlichen entrissen und teils mit einer neuen Realität konfrontiert wird. Gegenstände, die im Einzelnen kaum Beachtung finden, fallen in der sorgfältig arrangierten Akkumulation dadurch sonderbar auf.

Schon während seines Kulturpädagogikstudiums (B.A.) an der Hochschule Niederrhein beschäftigte er sich mit künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum. Er 
vertiefte diese Arbeit in seinem Design Projects Studium in seiner Masterarbeit mit dem Thema „Intervention im öffentlichen Raum als Werkzeug zur Veränderung der Wahrnehmung“.Bei seinen künstlerischen Interventionen stechen der Perspektivwechsel und die Neukonfiguration von Orten als Hauptmerkmale der Veränderung hervor. Mit diesen Veränderungen zeigt er, wie die Konstruktion unserer Wirklichkeit geformt werden kann.

Mehr zu Garvin Dickhof: 
www.dastaunstebaukloetze.de