Der große Wert der Grenze

Die Kirche wandelt sich und mit ihr der Alltag in der Seelsorge. Wie geht es den Hauptberuflichen damit?

Martin Schlicht ist Diakon und öffnet die Kirche vor seinem Büro jeden Werktag. Für ihn beginnt der Arbeitstag mit einem stillen Gebet im Gotteshaus. Er hat einen Lieblingsplatz, auf den das Licht der Sonne fällt. (c) Thomas Hohenschue
Martin Schlicht ist Diakon und öffnet die Kirche vor seinem Büro jeden Werktag. Für ihn beginnt der Arbeitstag mit einem stillen Gebet im Gotteshaus. Er hat einen Lieblingsplatz, auf den das Licht der Sonne fällt.
Datum:
6. Aug. 2019
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 32/2019

Viele kennen dieses Gefühl: Man läuft in einem riesigen Hamsterrad und strampelt sich nach Kräften ab, ohne einen Schritt weiterzukommen. Überforderung und Überlastung stellen sich ein, oft verbunden mit gesundheitlichen Problemen. Das betrifft auch und gerade Seelsorgerinnen und Seelsorger. Das Bistum Aachen versucht, mit Beratungs- und Fortbildungsangeboten gegenzusteuern. Fortbildungsreferentin Angela Reinders und Diakon Martin Schlicht berichten im Interview über ihre Erfahrungen aus einem solchen Seminar.

Herr Schlicht, Sie brennen für Ihren Beruf. Aber irgendwann waren Sie ausgebrannt. Was war passiert?

Martin Schlicht  Ich war richtig krank damals, über eine längere Zeit. Ich konnte nichts mehr tun. Ich verlor sogar vorübergehend meine Sprache.

 

Was hatte Sie dahin geführt?

Martin Schlicht  Ich habe völlig entgrenzt Aufgaben angenommen. Als Seelsorger in einem weitläufigen ländlichen Raum habe ich nicht „nein“ sagen können. Was daraus entstand, war einfach zu viel. Es überstieg meine Kräfte und Grenzen. 

 

Immer wieder hört man von solchen Situationen. Wie stellt sich die Gesamtlage dar?

Angela Reinders  In der Tat befindet sich die Kirche im Umbruch. Die Zahl der Priester sinkt, die dörflichen Strukturen bleiben. Die Menschen leben darin und möchten dort auch ihren Glauben leben. Umso wichtiger ist ein achtsamer Blick auf die Priester und auf alle anderen, die hauptberuflich in der Pastoral unterwegs sind. Nicht nur die Menschen, sondern auch diese Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst müssen damit leben, dass sie nur noch einzelne Impulse geben können. Sie können einfach nicht überall sein und sie können nicht alles leisten. Das zu sehen und anzuerkennen, braucht sicher bei vielen an vielen Orten noch viel Zeit.

 

Was können Seelsorger selbst dazu beitragen, dass sie in diesem Umbruch bestehen?

Martin Schlicht  Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nur sagen, dass es fundamental wichtig ist, Grenzen zu ziehen – anderen gegenüber und den eigenen Ansprüchen gegenüber. Wenn man wie ich auf die 60 zugeht, erscheint es noch einmal wichtiger, mit den eigenen Kräften zu haushalten. Aber: Jeder ist, unabhängig vom Alter, gut beraten, sich das eigene Leben und Arbeiten genau anzuschauen. Welche Ideale und Prinzipien leiten mich, welche Muster prägen mich, was schadet, was ist vielleicht sogar ungesund?

 

Können Sie Beispiele nennen?

Martin Schlicht  Unsere Berufung ist, unmittelbar und bedingungslos Liebe zu schenken, wie Gott es getan hat und tut. Wenn ich das zu stark in den Vordergrund rücke, laufe ich Gefahr, mich selbst zu verlieren. In der Hospizarbeit heißt es immer: Du darfst nicht mitsterben. Das gilt für alle Felder der Seelsorge. Man muss erkennen: Du kannst die Welt nicht verändern, die Welt geht auch ohne Dich weiter. Aber ich möchte nicht ohnmächtig sein, ich möchte mitgestalten. Wenn die Welt sich also ein wenig durch mich verändert, dann ist es gut so. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ein Zweites: Man läuft in diesem Beruf Gefahr, sich im Organisatorischen zu verlieren. Man funktioniert irgendwie. Was tun? Ich eröffne meinen Arbeitstag mit der Laudes in der Kirche und schließe mit dem Abendgebet. Nach der Fortbildung habe ich meine Bürowand umdekoriert. Früher hing die Uhr zentral über allem. Jetzt hängt das Kreuz darüber: Die Hoffnungsbotschaft im Tod Jesu Christi steht über allem, nicht die Termine. Ich habe gelernt: Ein freundliches „Nein“ ist keine Niederlage und auch kein Abbruch gegenüber dem Sendungsauftrag, den ich lebe. Apropos leben: Jetzt gibt es wieder mehr bewusste Zeit mit der Familie. Unsere heiligen Tage sind Eishockey-Heimspiele.

 

Das hört sich vielversprechend an. Rückenwind durch Fortbildungen wie diese?

Angela Reinders  Wenn es gut läuft, helfen Fortbildungen in der Tat, die eigene Widerstandskraft zu stärken. Zugleich können wir mit unseren Seminaren nur Entscheidungen anbahnen. Beispiel Arbeitszeit: Als Seelsorger kann ich sie frei gestalten und muss zugleich aber klar abstecken, was nicht geht. Beispiel Resonanz: Ich fühle mich als Seelsorger dort am besten, wo ich Rückmeldungen auf meine Arbeit bekomme. In Fortbildungen findet der kollegiale Austausch statt, für den sonst nicht immer Zeit ist. Auch als Fortbildnerin muss ich meine Grenzen kennen. Die heißen hier: Ich kann nicht den ganzen Menschen ändern. Aber ich kann wie bei einem Mosaik Akzente setzen, die ein neues Bild ergeben. Und darüber hoffe ich auch, einen wertvollen Impuls für die Entwicklung unserer Kirche zu geben.

 

Das Gespräch führte Thomas Hohenschue.

Seelsorge im Wandel

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