Klaus Esser kniet zwischen den Bänken der kleinen Kapelle im Bethanien-Kinderdorf in Schwalmtal und faltet die Hände. Eine alte Frau mit Habit und tiefen Lachfältchen um den Mund steht in der Nähe des Altars. Die Dominikanerin von Bethanien leitet ruhig durch das Gebet. Auch Britta Langes Mund bewegt sich leicht. Neben ihr wackelt ein kleiner Junge ungeduldig mit den Beinen, seine Schwester lauscht mit konzentriertem Blick. Ob Geschäftsführer, ob Kinderdorfmutter oder Kinderdorfkind, hier spielen Positionen keine Rolle. Denn hier, vor Gott, sind sie alle gleich.
„Für mich hat der gemeinsame Gottesdienst noch immer eine besondere Magie“, beschreibt Klaus Esser als Geschäftsführer der Bethanien-Kinderdörfer in Deutschland und als Vorsitzender des Bundesverbands katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVKE). „Hier ist es egal, ob ich Vorgesetzter bin, ob ich heute einen schlechten Tag hatte oder ob ich mich über etwas ärgere; das Gebet verbindet uns alle miteinander.“
Und dennoch wird es für Esser und seine Kollegen schwieriger, Mitarbeiter zu finden, die sich auf diese Spiritualität einlassen. Grund dafür ist eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen die Kirche verlassen und gleichzeitig Fachkräfte rar sind. „Wir haben trotzdem die Erfahrung gemacht, dass gerade Mitarbeiter, die ohne religiösen Bezug in ihrer Familie aufgewachsen sind und sich auf uns als Arbeitgeber einlassen, hier im Kinderdorf die Spiritualität für sich zu schätzen lernen“, beschreibt Esser. „Spiritualität gibt dir nicht vor, was du glauben sollst, sondern sie gibt dir Raum, dich mit deinen eigenen Werten auseinanderzusetzen. Das ist immer ein Gewinn.“
In den drei Bethanien-Kinder- und Jugenddörfern in Schwalmtal, Bergisch Gladbach und Eltville arbeiten insgesamt rund 600 Menschen. Ursprünglich von den Dominikanerinnen von Bethanien gegründet, wurden lange nur Mitarbeitende mit christlicher Konfession eingestellt. Heute habe sich das verändert, beschreibt der Geschäftsführer, denn auch konfessionelle Arbeitgeber müssten sich und ihre Anforderungen überdenken und anpassen. „Wer als Träger die Kritik an Kirche verbietet, handelt heute nicht mehr zeitgemäß“, beschreibt der zweifache Familienvater. „Kirche ist nichts, was man konsumiert, sondern Kirche ist das, was wir selbst erleben und gestalten können. Diese Freiheit müssen wir bieten.“
Die Schwalmtalerin Britta Lange entschied sich bei der Auswahl eines neuen Arbeitgebers bewusst für das Bethanien-Kinderdorf als kirchlichen Träger. Im März wird sie nach dreijähriger Vorbereitung eine Kinderdorffamilie in Bethanien gründen. Die kirchliche Ausrichtung des Kinderdorfes spielt dabei für die 40-Jährige eine wichtige Rolle. „Bei uns leben Kinder und Jugendliche, die in ihren ei-genen Familien Abbrüche erlebt haben. Ihnen Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, ist für ihre Entwicklung so wichtig“, schildert die Erzieherin. „Wenn man Kindern den Glauben bringt, können sie fühlen, dass sie gewollt werden. Dieses Gefühl ist identitätsbildend.“
Bevor sie ins Kinderdorf kam, arbeitete Lange als Köchin in einer Jugendherberge. Sie war, wie sie lachend beschreibt, die typische „Weihnachtskirchgängerin“. Hier im Kinderdorf erlebte sie nun, wie Glauben Wurzeln schlagen kann. Während ihrer Ausbildung zur Erzieherin hatte Lange in den letzten drei Jahren in unterschiedlichen Kinderdorffamilien und Wohngruppen hospitiert. Jede Gruppe und jede Kinderdorffamilie selbst bezog dabei eigene spirituelle Rituale in den Alltag ein: Ob das Gebet vor dem gemeinsamen Essen, das Kreuzchen auf der Stirn vor dem Schlafengehen, das Sprechen über christliche Feste und Traditionen oder der sonntägliche Gang zu den besonderen Gottesdiensten in die Kinderdorfkapelle – Lange hat die Spiritualität zu schätzen gelernt. Vor allem aber das Gemeinschaftsgefühl trägt die werdende Kinderdorfmutter. „Noch heute leben die Dominikanerinnen ja hier vor Ort“, schildert sie. „Für mich als Kinderdorfmutter ist das ein gutes Gefühl, zu wissen, dass da jemand ist, der für mich da ist, der an mich denkt und der ja auch irgendwie einen guten Draht nach oben hat.“
Während bei Lange Kinder völlig unterschiedlicher oder auch ohne Konfession einziehen werden und es für die Kinder keine Anweisung gibt, an Gottesdiensten oder christlichen Ritualen teilzunehmen, prüfen Esser und seine Kollegen dagegen bei Einstellung die Bereitschaft der Mitarbeiter für die Umsetzung christlicher Rituale. Vor rund fünf Jahren erfand das Kinderdorf einen eigenen Arbeitsbereich, die „Bethanische Unternehmenskultur“. Die theologischen Kollegen sind ausschließlich dafür da, die Pädagogen an die Spiritualität heranzuführen.
Ob durch Pilgerangebote, durch Schulungen rund um christlichen Wortgebrauch und Liturgie, ob durch biblisches Kochen oder spannende Ausflüge – die theologischen Mitarbeitenden möchten auf Dauer dafür sorgen, dass die Tradition der Dominikanerinnen von Bethanien nicht in Vergessenheit gerät. „Es gibt einen Grund dafür, dass früher viele soziale Einrichtungen in christlicher Initiative gegründet wurden und auch noch heute religiöse Figuren in den Leitbildern verankert sind“, erklärt der Vorsitzende des BVKE, zu dem heute deutschlandweit 460 katholische Träger und Einrichtungen gehören. „Wir erleben in der Verbandsarbeit, dass viele davon inzwischen besondere Konzepte entwickeln oder Mitarbeiter einstellen, die diese Tradition fortsetzen sollen.“
Esser glaubt daran, dass vor allem die katholischen Haltungsgrundlagen und die gemeinsame christliche Prägung und Orientierung in der Praxis am Ende einen Unterschied machen können. Er nennt die Diskussion um die Inklusion als praktisches Beispiel.
„Es gibt diejenigen, die humanitär argumentieren, und die, die aus einer christlichen Perspektive sprechen“, beschreibt Esser. Vor Gott, erklärt er weiter, sei auch ein Mensch mit Behinderung Gottes Ebenbild. Am Ende wäre so zwar das Handlungsergebnis das gleiche, der Weg dahin aber unterschiedlich. „Eine Gemeinschaft funktioniert ähnlich wie das Pilgern. Denn wer den gleichen Weg nimmt, fühlt sich zusammengehörig“, betont der Heilpädagoge. „Auch wenn es schwieriger wird, Mitarbeitende zu finden, glaube ich fest daran, dass es richtig ist, dass wir unseren Anspruch daran, offen und zugänglich für Spiritualität zu sein, dabei nicht aus den Augen verlieren.“