„Der Mensch ist keine Katastrophe. In ihm ist immer auch das Gute“, sagt Aachens Bischof Dr. Helmut Dieser. Im Gespräch mit der Kirchenzeitung erklärt er, warum wir uns im Heiligen Jahr als „Pilger der Hoffnung” auf den Weg machen sollten, um mit kleinen Schritten die zerrüttete Welt zu verbessern, warum der Rückzug in „private Biedermeier-Gemütlichkeit” keine Lösung ist und warum Beichte eine Befreiung sein kann.
Wir feiern 2025 das Heilige Jahr. Handelt es sich dabei um eine Marketing-Kampagne der Kirche, die Mitglieder verliert, oder ist das Jubiläumsjahr doch etwas Besonderes?
Helmut Dieser: Beides. Die Idee des Heiligen Jahres verbunden mit einem vollkommenen Ablass ist Jahrhunderte alt und hat sich bewährt. Die Tradition eines besonderen Jahres, das das Gewohnte unterbricht, geht schon aufs Alte Testament zurück und wurde im Mittelalter wiederbelebt. Natürlich war es auch eine Marketingsache. Dadurch wurden Einnahmen generiert. Die wirtschaftliche Dimension des Menschseins ist immer mitzudenken, wir leben nicht nur von Luft und Liebe. Aber die seelischen Güter standen immer über den materiellen.
Hat eine Pilger-Tradition, die auf das Jahr 1300 zurückgeht, heute noch Bedeutung?
Dieser: Der Zeitgeist fordert uns stetig heraus, setzt neue Fragen frei, bringt neue Antworten hervor. Was haben wie denn heute überhaupt für eine Zeit? Gewissheiten gehen massenhaft verloren, schmelzen wie Schnee in der Sonne. Und wie sieht das mit der Kirche aus? Ist der Glaube ungewiss? Es ist nicht mehr so, dass du dir sicher sein kannst, von der Hand in den Mund alles zu haben. Fast alles ist nicht mehr sicher, du musst pilgern.
Das Motto „Pilger der Hoffnung” passt also in die Zeit?
Dieser: Das Pilgerwesen hat sich in den vergangenen Jahren erstaunlich entwickelt. Die Menschen machen sich auf den Weg, oft angetrieben von der tiefen Frage, was das eigene Leben eigentlich ausmacht. Dabei geht es auch um Grenzerfahrungen. Das Motto für das Heilige Jahr liegt nicht blank auf der Straße, die Pilger der Hoffnung müssen sich auf
den Weg machen. Unterwegs können wir sicherer werden und erfahren, was das Gute ist, Mensch zu sein, Christ zu sein, an Gott zu glauben. Es gibt Gründe, warum ich heute als Teil einer Kirche Beiträge leiste, meinen Input gebe. Es gibt Gründe, warum ich dies zusammen mit anderen mache, wir nur in Konkurrenz zueinander stehen. Gefühlt leben wir in einer verrückten Welt. Doch so irrational ist der Mensch nicht.
Sie spielen auf die Politik an, das Erstarken von Rechtspopulismus, Despoten und Autokraten?
Dieser: Wenn es in Europa wirklich noch diese Werte gibt, von denen wir immer gedacht haben, sie seien so wichtig, sollten wir in Europa den Schulterschluss suchen und wieder daran glauben, dass Europa und die Europäische Vereinigung eine echte Glücksgeschichte waren und sind. Diesen Europa-Gedanken sollten wir wieder hochhalten und keine Angst vor unseren eigenen Werten haben.
Wären Sie Politiker, was würden Sie besser machen?
Dieser: Besser machen – das geht gleich ins Gouvernantenhafte: „Streng dich mal an, pass dich an, frag nicht zu viel.” Wir sollten uns größer machen, den Horizont weiten. Christen handeln nicht spießbürgerlich. Der Gartenzwerg vor dem Haus reicht nicht mehr, der Gartenzwerg darf nicht wichtiger sein als der Nachbar neben mir. Alles, was wir tun, leistet einen Beitrag, einmal Bürger im Reich Gottes zu sein. An dieser Stelle fängt übrigens Hoffnung an. Wir sind Kinder Gottes und Jünger Christi, der alles in seinen Händen hat. Alles ist möglich, das kleinste Senfkorn kann groß werden. Wenn ich etwas im Glauben und Hoffnung und Liebe tun kann, wird daraus etwas Großes.
Ziehen sich die Menschen nicht immer mehr zurück und kaufen neue Gartenzwerge, wollen ihre Ruhe haben?
Dieser: Die Wirklichkeit ist anstrengend geworden. Wir suchen Abgrenzung. Es ist anstrengend, wenn wir immerfort über den eigenen Sicherheitsraum hinausgezerrt werden. Da ist es legitim, dass jeder seine Heimat sucht in seinem Bezugsraum. Aber wir können uns der Wirklichkeit nicht völlig verschließen. Ich kann in meinem kleinen Rahmen so leben, dass ich den größeren Rahmen nicht verneine. Wenn ich im Kleinen einen Beitrag für das Gemeinwohl leiste, trägt das auch zum Ganzen bei. Als Christ darf ich mich nicht nur damit begnügen, dass ich mein Auskommen habe, oder noch mehr anhäufe. Es ist nicht falsch, vorzusorgen. Aber das Sicherheitsbedürfnis darf nicht das Vertrauen auf Gott ersetzen. Christen sollten mehr geben als nehmen und bewahren. Das alles ist unser Beitrag dazu, dass wir uns nicht in private Biedermeier-Glückseligkeit zurückziehen.
Wie lautet Ihre Definition von Hoffnung?
Dieser: Hoffnung ist mehr als das schon Vorhandene. Etwas, das wir nicht nur aus uns selbst heraus zustande bringen. Ich hoffe auf etwas, was noch kommen wird. Hoffnung, die man schon erfüllt sieht, ist keine. Wir hoffen auf etwas Besseres, Gesünderes, Kräftigeres. Damit es wirklich kommen kann, gilt es, Schritte in die Richtung zu gehen. Indem ich etwas beitragen will, bin ich jemand, der Hoffnung auf den Weg bringt. Mit vielen kleinen Schritten entsteht auch eine große gemeinsame Hoffnung. Mit Gottes Hilfe mehr als ich selbst vermag.
Was raubt Ihnen Hoffnung?
Dieser: Die Dummheit der Menschen, auch meine eigene. Vieles in der aktuellen Weltpolitik ist Dummheit. Wo soll der Weg hinführen? Akteure wie Donald Trump übersehen, wie viele Menschen zu leiden haben, wie viele Leute die Zeche zahlen müssen. Dummheit trifft auf Dreistigkeit – das ist offenbar der Mensch, so sind wir. Das Schlimme ist, dass das immer verfängt. Immer. Der Mensch bleibt gefährdet durch seine innere Angeschlagenheit, seine Begrenztheit. Er ist zum Bösen geneigt.
Ist der Mensch von sich aus böse?
Dieser: Der Mensch ist keine Katastrophe, sondern von Gott gut geschaffen. Aber er besitzt eine eigene Freiheit. Diese Freiheit kann in die eine oder die andere Richtung gehen. Es gibt so viel Gutes, was Menschen tun. Das wird vom Glauben her verstärkt, größer gemacht. Schon am Anfang wurde der Mensch jedoch in dieser Freiheit verführt. Wir nehmen die Sache selbst in der Hand, ohne Gott. Auf diese Verführung ließ der Mensch sich ein, und dadurch verändert sich etwas. Die Geschichte von Kain und Abel zeugt von einem uns immanenten Argwohn und Misstrauen, von unserer Neigung zur Gewalt.
Brauchen wir Gott für unseren Weg?
Dieser: Der Mensch ist nicht allein unterwegs, wenn wir Jesus nachfolgen. Er ist es, der uns in seinem Weg schon überholt hat und alle Sünde auf sich selbst nimmt. Das setzt aber voraus, dass ich klug bin, auch im Selbstbild. Ich bin nicht unverwundbar, ich bin nicht unkorrumpierbar, habe nicht im Drachenblut gebadet und keine schwache Stelle mehr. Wenn ich gefallen bin, muss ich es erkennen. Das ist die echte Erfahrung von Schuld: Wir können mit unserer Macht etwas anrichten, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt.
An wen wende ich mich mit dieser Schuld?
Dieser: Der andere Mensch kann mir verzeihen, darauf wird es auch ankommen, das ist nicht egal. Aber auch in mir ist etwas kaputtgegangen, ich muss mir selbst verzeihen. Und noch tiefer ist es ist Gott, der mir verzeiht.
Macht es das Bußsakrament, das mit dem Heiligen Jahr eng verbunden ist, nicht zu
einfach?
Dieser: Bereuen ist nicht so leicht, diese Reue muss schon echt sein. Reue ist erst echt genug, wenn ich bis an den Punkt gehe, an dem ich bereit bin oder fähig werde, den Schmerz der anderen selbst zu spüren. Dieser Schmerz läutert mich erst. In der Herausforderung zwischen Himmel und Erde gibt es noch einen Berg, der abgetragen werden muss. Das Christliche ist erst dann plausibel, wenn das erste Gebot ist, Gott zu lieben, nicht ihn zu fürchten. Wie die Liebe zu Mutter, Vater oder bestem Freund. Eine Liebe, die nicht möchte, dass dem anderen Böses geschieht. Eine Liebe, die auch Gott nicht enttäuschen will. So sollen wir Gott lieben.
Der Gang in den Beichtstuhl wirkt im Jahr 2025 doch ein wenig archaisch.
Dieser: Ich empfinde das Bußsakrament als befreiende Erfahrung und ein Gesprächsangebot. In der Vergangenheit wurde die Beichte oft wie eine Hypothek, eine Last betrachtet, es herrschen negative Erfahrungen vor. Nicht Barmherzigkeit stand im Vordergrund, sondern eher eine Form der Abrechnung. Das sollte heute niemand mehr erleben. Eine Beichte kann heilsam sein, sie stellt einen Schutzraum dar, in dem ich loslassen darf, nichts beschönigen muss. Ein bedingungsloses Gespräch in der Hoffnung, dass es einen Gott gibt, der Versöhnung schafft. Wir alle haben Themen, die uns kaputtmachen, wenn wir sie nicht ansprechen. Verdrängte Gefühle, nicht bewältigte Schuld, Verantwortung, an der man gescheitert ist – das ist menschlich. Die Hoffnung gründet auf der Erfahrung der Vergebung. Wir sollten das Bußsakrament neu entdecken. Eine Beichte soll ja helfen, einen wieder groß statt klein zu machen. Selbst am absoluten Nullpunkt ist Hoffnung.
Bischof Helmut Dieser begleitet am Samstag, 24. Mai, ab 13 Uhr einen Pilgerrundgang (etwa fünf Kilometer) rund um das Kloster Steinfeld. Im Anschluss gibt es die Möglichkeit zur Begegnung bei Kaffee und Kuchen (15 Uhr) sowie weitere Angebote. Um 17.30 Uhr wird die Vorabendmesse in der Basilika St. Potentinus gefeiert. Eine Anmeldung ist noch bis zum 10. Mai unter https://www.bistum-aachen.de/heiligesjahr möglich.