Der Kompass, der uns führt

Der Aachener Sozialethiker und Priester Elmar Nass plädiert dafür, christliche Werte bewusst zu leben

Elmar Nass ermutigt Christen, mit neuer Kraft in Wort und Tat Zeugnis des Glaubens abzulegen. (c) Foto: privat
Elmar Nass ermutigt Christen, mit neuer Kraft in Wort und Tat Zeugnis des Glaubens abzulegen.
Datum:
28. Juli 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 31/2020 | Thomas Hohenschue

Wir alle gehen durch unser Leben. Wir verhalten uns zu den Situationen, vor die es uns stellt. Wir gestalten unsere Beziehungen, treffen Entscheidungen. Wir stellen uns auf zu gesellschaftlichen Fragen. Auf welchem Fundament tun wir das alles? Sind uns die Werte, die uns leiten, wirklich bewusst? Der Aachener Sozialethiker und Diözesanpriester Elmar Nass hat dazu ein Buch geschrieben. Im KiZ-Interview entfaltet er ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich des inneren Kompasses klar zu werden, der uns als Christinnen und Christen führt.

Manche meinen, Katholiken sollten sich aus Politik und Gesellschaft heraushalten. Andere wiederum sind zutiefst überzeugt, dass sie genau das nicht tun sollten. Was ist Ihre Meinung?

Christen haben der Welt etwas zu sagen. Wir müssen nicht schweigen, sondern wir haben eigene Positionen zu den Herausforderungen, in die uns unsere Zeit stellt. Allerdings ist es wichtig, dass wir das überlegt tun. Es ist zu einfach, sich allseits geteilten Meinungen anzupassen. Wir müssen und wir können zur Gestaltung der Gesellschaft unser Eigenes beitragen. Dies verankert sich in der frohen Botschaft Gottes, ist in der Bibel begründet, wurzelt im Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Ich werbe dafür, sich dieses Fundaments neu bewusst zu werden und davon in unserem Argumentieren auszugehen. Erst dann können wir auf Augenhöhe mit anderen Menschen diskutieren. Denn die haben auch ihren eigenen Wertehorizonte und nehmen darauf bewusst Bezug. Dahinter dürfen wir Christen nicht zurückfallen, sonst ist unser Beitrag überflüssig.

Im Gespräch mit anderen ist es wichtig, verstanden zu werden. Was also sind konkret die Haltungen, mit denen Christen Politik und Gesellschaft inspirieren und herausfordern können?

Das Christentum hat starke Überzeugungen im Gepäck, was es heißt, ein erfülltes Leben zu führen und es allen Menschen zu ermöglichen. Wir leiten diese Positionen aus unserer Gewissheit ab, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, mit einer unantastbaren Würde und Verantwortung vor Gott, sich und anderen. Wenn man das als Tugend verinnerlicht, ergeben sich weitere Konsequenzen unweigerlich. Die biblischen Quellen nennen viele Beispiele, die wir gut ins Heute übersetzen können. Das größte Vorbild für uns Christen ist, dass Jesus als Sohn Gottes auf die Welt kam, die Menschen mit Worten und Taten inspirierte und sein Leben für das Heil der Menschheit hingab.

Gehen wir diese Prinzipien konkret durch. Sie sprachen von der Würde des Menschen. Was folgt daraus, wenn man das als Prinzip verinnerlicht?

Die Würde des Menschen ist unantastbar, das besagt unser Grundgesetz und das begründet unser Glaube am besten. Daraus leitet sich ab, dass ein Gemeinwesen nur dann gerecht ist, wenn es jedem Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Geschlechts, welchen Alters, welcher Talente, grundsätzlich ermöglicht, ein erfülltes Leben vor Gott zu führen.

Das ist nicht selbstverständlich. Wir sehen zum Beispiel in Debatten um Sterbehilfe, wie plötzlich Leben für unwert erklärt werden kann und wirtschaftliche Argumente das Sagen haben. Christen treten für den unveräußerlichen Wert gerade auch des schwachen Lebens ein. Caritas und Diakonie etwa setzen diese Mission der Liebe in die Tat um. Wir können auch nicht anders, denn welche Gesellschaft wäre die Alternative, die die Würde des Menschen relativiert und in die Hand der Starken legt? Wollten wir in so einer Gesellschaft leben?

Das zweite grundlegende Prinzip, das Sie nennen, ist das der Verantwortung. Auch das ist Nichtchristen bekannt. Was ist hier das Besondere am christlichen Blick?

Es stimmt: Man kommt hier mit Vernunft ebenso ans Ziel. Was Kant sagte, gilt: Wenn unser Zusammenleben gelingen soll, ist es vernünftig und sittlich geboten, dass sich jeder so verhält, wie er selbst behandelt werden möchte. Aber ich sehe in dem, was unser christlicher Glaube uns mitgibt, mehr als das. Er skizziert eine Idee von Zusammenleben, das mehr ist als ein Neben- und Gegeneinander.

Was das Evangelium uns abfordert, ist ein wirkliches Miteinander, und zwar nicht als bloße Pflicht, sondern aus Tugend und gelebtem Glauben. Weil mein Nächster eben genauso wie ich Gottes Ebenbild ist, sind es meine Schwester und mein Bruder, mit denen ich umgehe. Mit dieser Überzeugung verbindet sich die katholische Idee der Menschheitsfamilie. Und wir sprechen nicht umsonst von Nächstenliebe statt von Nächstenpflicht. Im Nächsten erkenne ich Gott, erkenne ich Jesus. Und das gilt nicht nur für meine eigenen Liebsten, sondern für jeden, auch den Fremden, den Kranken, den Alten. Wenn wir das verinnerlicht haben, können wir Ideologien und Argumentationen entgegentreten, in deren Zentrum Macht, technische Machbarkeit und wirtschaftliche Vorteile stehen.

Das klingt recht einfach und doch auch ziemlich anspruchsvoll. Wie kommt man da als Normalbürger und Christ durch?

Ich verstehe diese Werte und Prinzipien nicht als eine Schablone, die ich in jeder Frage meines Lebens einfach anlegen kann. Eher greift für mich die Idee, dass diese Werte einen Kompass bilden, der mich auf meinem Weg begleitet und Orientierung gibt. Im besten Fall führt er mich direkt zum Ziel, in jedem Fall gibt er mir die Richtung vor, in die ich aufbrechen sollte.

In meinem Buch „Deus homo“ beschreibe ich einige Fragen und Situationen, in denen der christliche Kompass hilft. Das sind aber nur Beispiele. Und es gilt, immer wieder neu für sich zu übersetzen, wohin der Zeiger weist. Das geht sehr gut auch für die großen Herausforderungen, die sich uns privat und gesellschaftlich immer wieder stellen.

Machen wir die Probe aufs Exempel mit der Krise, die uns seit März 2020 in Schach hält. Wie hilft uns der christliche Kompass durch die Zeit der Corona-Pandemie?

Die tätige Nächstenliebe, die wir in vielen Gemeinden und Einrichtungen von Kirche und Caritas erleben, zeigt, dass viele Gläubige einen funktionierenden Kompass haben. In der aktuellen Not haben sie ihre eigenen Möglichkeiten genutzt, um andere emotional, sozial und wirtschaftlich zu unterstützen. Aber auch in wichtigen Grundsatzfragen, welche die Pandemie aufwirft, hilft der Kompass weiter. Diese Fragen erlauben keinen bequemen Aufschub. Wie zum Beispiel in der Frage der Triage, also der Entscheidung, wer bei einer Covid-19-Erkrankung behandelt wird und wer nicht.

Inwiefern kann hier der christliche Kompass weiterhelfen?

In der konkreten Situation, wenn es mehr gefährlich Erkrankte gibt, als ein Krankenhaus oder ein Arzt versorgen kann, geht es manchmal um Minuten, die über Leben und Tod entscheiden, und da kann man nicht lange diskutieren. Ethik muss sich dann bereits im Gewissen der Entscheider sowie in Regeln und Absprachen spiegeln.

Und das heißt für eine christliche Position: Wir müssen um jedes Leben kämpfen, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, Alter oder ähnlichen Merkmalen. Aber leider gibt es in der aktuellen weltweiten Krise weit verbreitete Ansichten, welche der Nützlichkeit und wirtschaftlichen Kriterien den Vorrang geben.

Das heißt, ein Mensch, der noch mitten im Erwerbsleben steht, wird nach dieser Denkschule bevorzugt behandelt, selbst wenn er geringere Überlebenschancen hat als ein alter, vitaler Mensch, bei dem gute Aussichten bestehen, dass er die Covid-19-Erkrankung übersteht. Es sollen am Ende möglichst viele Lebensjahre gerettet werden, die auch noch in Geld umgerechnet werden. Am Ende steht dann eine in Euro berechnete Bilanz, in der ein Algorithmus entscheidet, welches Leben der Gesellschaft mehr nutzt als ein anderes.

Der christliche Kompass sagt an dieser Stelle: Eine Grundsatzentscheidung, die jüngeres, im Wirtschaftsprozess eingebundenes Leben als wertvoller und rettungswürdiger einstuft als ein älteres, ist nicht akzeptabel, sie ist grundfalsch. Wir Christen sind überzeugt: Jeder Mensch ist einzigartig, hat seine Würde, sein Recht auf ein gutes Leben. Altersdiskriminierung unterstützen wir nicht, und wir warnen vor den Folgen: etwa vor einer Spaltung der Gesellschaft, die einsetzt, wenn sich solches Denken weiterverbreitet. Irgendwann sagt dann jemand, warum finanzieren wir überhaupt Senioreneinrichtungen, gibt es nichts Wichtigeres? Das wäre eine groteske schiefe Bahn in die Unmenschlichkeit.

Von der Dimension her ist die Klimakrise noch gewaltiger als die Coronakrise. Was sagt uns hier der christliche Kompass?

Er legt den Finger in die Wunde. Auch Jesus war nicht bequem gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit. Für uns heute heißt das, kritisch und selbstkritisch zu sein. Im Kleinen fängt es an: Wie gehe ich persönlich mit der Schöpfung um, mit der Natur, und welche Produkte kaufe ich? Unsere christliche Verantwortung besteht auch gegenüber nachfolgenden Generationen. Und auch Tiere und Pflanzen sind Mit-Schöpfung, der wir uns mit Liebe und Respekt zuwenden sollen.

Was für uns und unsere Familien gilt, fordert natürlich unsere Gesellschaften nochmal stärker heraus. Wir alle müssen die eingefahrenen Tretmühlen verlassen, wenn der Planet und unser Leben noch eine Chance haben sollen. Papst Franziskus hat sich für diesen Gedanken sehr stark ins Zeug gelegt. Er hat die Bewahrung der Schöpfung in die erste Liga unserer Heilsverantwortung gehoben. Es ist die zentrale Herausforderung, der sich die Menschheit und die Christenheit stellen müssen – und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt und sofort, und nicht irgendwer, sondern wir.

Nehmen wir noch einen ganz anderen Anwendungsfall für den christlichen Kompass. Wohin zeigt er, wenn es um die Krise der katholischen Kirche geht?

Das Hauptproblem der Kirche ist eine wahrgenommene Unglaubwürdigkeit. Im Umgang mit den skandalösen Verfehlungen scheinen sich manche Mitverantwortliche geschickt wegzuducken. Wenig jesuanisch ist auch der Eindruck, den Reaktionen auf wegbrechende Mitgliederzahlen hinterlassen. Bei vielen Menschen kommt an, es gehe nicht um die Seelen und das Heil der Welt, sondern um das Geld.

Verstärkt wurde diese Entfremdung in der Coronakrise. Auch hier haben viele Menschen die Kirche als Wegbegleiterin vermisst. Viele in der Pastoral haben zwar Einsame angerufen, mutig Sterbende begleitet und Pflegenden Mut gemacht. Solches Vorbild muss aber noch viel mehr die Regel sein als ein allzu passives Sich-Einfügen. Fast selbstverständlich nahmen Theologen hin, dass in der Diskussion um Hoffnungsbilder die Bundesliga weit vor den Kirchen rangierte. Da wundert man sich nicht, wenn uns viele den Rücken zukehren, weil sie nicht mehr wissen, wofür Theologie und Kirche da sind.

Und da hilft der Kompass weiter?

Ja, denn er unterstützt uns darin, von unserem Glauben zu erzählen und aus diesem heraus zu leben. Nichts ist glaubwürdiger und notwendiger als das. Wenn wir Nächstenliebe praktizieren, wenn wir Verantwortung zeigen, für die Würde des Menschen eintreten, durch Wort und Tat, dann hat die Kirche eine Zukunft. Das ist eine kritische Anfrage an uns alle, angefangen vom einfachen Christen bis zu Theologen und Würdenträgern. Glaubwürdigkeit ist das, was uns als Kirche gerade fehlt, und sie kann nur beharrlich wiedergewonnen werden. Der Weg dahin ist, das persönliche Christsein einzubringen, wo ich lebe, arbeite, diskutiere, feiere. Es gibt dafür Orte, und wir können neue schaffen. Die Kirche hat eine Zukunft, mit unserem Mut und unserem Einsatz. Und das sage ich durchaus auch mit ökumenischer Hoffnung.

Das Gespräch führte Thomas Hohenschue.