Der Geist möge uns führen!

Im Fastenhirtenbrief spricht Bischof Helmut Dieser über menschliche Abgründe und neue Hoffnung

Duccio di Buoninsegna: Die Versuchung Jesu auf dem Berg (um 1310), Frick-Collection/New York City. (c) commons.wikimedia.org
Duccio di Buoninsegna: Die Versuchung Jesu auf dem Berg (um 1310), Frick-Collection/New York City.
Datum:
9. März 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 10/2022

Liebe Schwestern und Brüder 
im Bistum Aachen,

wer gerne Krimis liest oder anschaut, weiß: Sie sind umso packender, je näher die Handlung den eigenen Lebenserfahrungen kommt. Ja, das könnte mir auch passieren! So was kenne ich doch auch! Und wie im richtigen Leben, so muss es dann auch im Krimi sein: Es bleibt bis ganz zum Schluss offen, wie es ausgeht. Wenn schon früh der Eindruck entsteht: Ja, klar, es musste ja so kommen! Oder: Ja klar, alles wird sowieso am Ende gut!, dann verliert die Handlung ihre Bedeutung und ihre Nähe zu unserem Leben.

Ich wähle diesen Vergleich, um zu beschreiben, wie stark die Zerreißprobe ist, die unsere Kirche und die Menschen in ihr derzeit durchmachen, schmerzlich-spannender und leider realer als jeder Krimi!

Niemand kann dabei sagen: Es musste ja so kommen! Denn für die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs und für das Vertuschen und Nichteingreifen derer, die darum wussten, gibt es eine persönliche Verantwortung, die nicht abgewiegelt werden kann.
Und niemand kann sagen: Am Ende wird ohnehin alles gut! Denn die Überlebenden des Missbrauchs wurden um ihr Unversehrtsein und viele auch um ihr Lebensglück gebracht. 
Viele Gläubige verlieren ihr Vertrauen in den Weg der Kirche überhaupt. Manche schreiben mir: Ich kann den Satz im Glaubensbekenntnis nicht mehr mitsprechen: Ich glaube an die eine heilige katholische und apostolische Kirche. Darin liegt für sie ein unerträglicher Schmerz oder eine unstillbare Wut: Es kann gar nicht mehr gut werden! Eine rote Linie ist überschritten. Ich muss weggehen, austreten, ich will aus diesem Krimi hinaus, der längst zur bittersten Tragödie geworden ist.

Nein, da ist für viele nichts mehr heilig! Sie sagen: Gott ist woanders, nicht bei dieser Missbrauchs- und Skandal-Kirche und ihrem kriminellen Weg durch die Menschheitsgeschichte! 

Liebe Schwestern und Brüder, was ich Ihnen heute am Beginn der Fastenzeit über die Empfindungen vieler Menschen schreibe, ist nicht übertrieben. All das spüren und erleiden viele auch von Ihnen tagaus tagein. Sollen wir das Buch zuklappen, den Film ausschalten, in dem wir bis zuletzt drin waren, mitgefiebert, mitgehofft, mitgelitten haben? Dieser Gedanke ist so nah und so einsichtig, dass die Behörden nicht mehr mit Terminen nachkommen, weil so viele aus der Kirche austreten.

Und doch frage ich nachdenklich: Wohin austreten? Wo droht kein menschlicher Abgrund? Wo ist denn eigentlich etwas endgültig heilig?
An diesem ersten Sonntag der Fastenzeit hören wir aus der Heiligen Schrift die sehr ernüchternde Antwort: Nirgendwo!

Denn es gibt keinen Bereich des Menschen, in dem wir nicht ganz tiefe reale Anfechtungen durchmachen müssen. Die Heilige Schrift verwendet dafür das Wort „Versuchung“. Immer neu steht der Mensch vor der Wahl: So oder so, das eine führt immer weiter hinunter in den Abgrund, das andere kann dein nächster Schritt zum Besseren, ja zum Heiligen werden. Aber du hast dabei nicht einfach nur eine freie Wahl, sondern überall droht dir, abgelenkt, belogen, verführt, ausgenutzt oder benutzt zu werden. Kein Mensch ist davor sicher, so lange wir leben.

Kein Mensch, auch Jesus nicht! Er kommt vom Jordan, sagt der Evangelist, in ihm klingt noch das Wort des Vaters, das bei der Taufe durch Johannes hörbar geworden war: Mein geliebter Sohn, Gefallen habe ich an dir (vgl. Lk 3,22). Doch das ist kein Schutzpanzer für ihn. Und so kann es gar nicht ausbleiben, dass der Sohn Gottes in der Wüste in Versuchung geführt wird vom Teufel, der darauf aus ist, ihn zu belügen, zu verführen, zu stürzen: Gottes Sohn bist du? Dann beende das Entbehren, den Hunger, das Verlangen. Genüge dir selbst, mach es dir, hol es dir, aus Steinen Brot, aus Unterwerfung Lust, du kannst das doch, wer fragt danach? Und wenn schon: Alle Macht und Herrlichkeit, wofür die Menschen Kriege führen und sogar Freundschaft und Liebe verraten: Dir fällt das alles in den Schoß in einem Nu, wenn du es einfach nur haben willst für dich allein, keinen anderen brauchst du dafür! Und auch das noch: Deinen Gott kannst du einspannen für deine Zwecke, wer will dir das abspre-chen? Unverwundbar macht er dich, probier es aus, die religiöse Macht ist noch süßer als die politische! Wenn du erst die Herzen berauschst, tanzen sie nach deinem Takt, und nie werden sie an dir zweifeln. Deine Bewunderer, deine unzähligen Follower, tragen dich hinweg über alle Abgründe deiner eigenen Zweifel. 

Jesu Versuchungen, Schwestern und Brüder, waren real, kein schlechter Film, sondern hätten wirklich sein Weg werden können! Doch er widersteht. Er weiß, tiefer als wir alle: Gott ist heilig, sein Wille bleibt gut! 
Der Teufel kann Jesus deshalb nicht von Gott abbringen.

Und das gilt auch für unsere Zeit: Heilig ist Gott allein! Heilig wird und bleibt der Mensch nur in Jesus, doch das ist ein Weg und oft ein Kampf, das ist ein Drama ohne lebenslange Immunität. Das ist wirklich unser Leben als Nachfolge Christi. Und bevor wir uns überhaupt zur Kirche im Glauben bekennen können, muss das in unseren Herzen und in unserer Lebenshaltung sich immer neu ereignen, was der Apostel Paulus im Brief an die Römer schreibt: „Nahe ist dir das Wort. Wenn du mit deinem Mund bekennen kannst: ,Herr ist Jesus‘, und wenn du in deinem Herzen glauben kannst: ,Gott hat ihn von den Toten auferweckt‘.“

Das ist eines der frühesten christlichen Glaubensbekenntnisse: Jesus ist Herr – so wie Gott Herr ist. Denn Gott hat den Weg Jesu in Verrat, Verspottung, Qual und Hinrichtung nicht enden lassen, Gott hat ihn über all das emporgehoben in seine Herrlichkeit als erster Mensch für alle. Heilig ist Gott allein und heilig ist der neue Mensch, der in Christus ist. 
Die Fastenzeit, Schwestern und Brüder, die uns über 40 Tage hin bis zu dem österlichen Drama Jesu führt, bringt uns dieses Glaubensgeheimnis wieder ganz nahe. Wir können hineingehen, es durchleben und zur Hoffnung und Freude von Ostern durchbrechen: Gott macht das möglich, so wie ja auch der Heilige Geist Jesus durch die Wüste geführt hat. Wo das geschieht, wird die Kirche neu, und zwar ganz nahe, also in unseren eigenen Herzen. Damit fängt immer alles an, was heilig ist und werden kann für viele andere: im Herzen eines Menschen, der glaubt, was Gott in Jesus für uns getan hat. Jede Reform der Kirche kann nur gedeihen aus solchem Gottvertrauen, solchem Glaubensmut. Auch der Gesprächs- und Veränderungsprozess „Heute-bei-dir“ in unserer Diözese und auch der Synodale Weg aller Diözesen in Deutschland führen dann zu tragfähigen Reformen, wenn wir mit dem Heiligen Geist die Wüste bestehen, wenn wir nahe im eigenen Herzen nicht daran irre werden: Jesus ist der Herr. 

Beide synodale Prozesse erbringen erste konkrete Ergebnisse. Heute bitte ich Sie herzlich: Nutzen Sie die Fastenzeit, um die Veränderungen, die damit angestrebt werden, geistlich auf sich wirken zu lassen! Schnell kann man den vielen Stimmen nachjagen, die sagen: Alles von Grund auf falsch! Oder: alles viel zu wenig! Ich bitte Sie, mit dem Wort des Glau-bens in Ihrem Herzen die Beschlüsse zu erwägen: Jesus ist der Herr der Kirche. Gott hat ihn auferweckt und gibt uns durch ihn neues Leben, das nicht verdorben ist und zugrunde geht.

Dann kann der Heilige Geist uns ergreifen. Dann können wir gemeinsam gehen, weiter beraten, unterscheiden, entscheiden und anwenden, was wir als richtig erkennen. Gemeinsam unterwegs sein bedeutet ja nicht uniform, einförmig, unterwegs sein. Auch unsere Kirche kann nicht uniform sein, sondern sie ist vielfältig, das ist ja der Wortsinn des Begriffs „katholisch“: das Vielfältige umfassend und beieinander haltend. 
So wird aus den vielen Wegen der Menschen ein Mitgehen mit Jesus auf seinem Weg. So kann der Heilige Geist sich immer neu als stärker erweisen als die Verbrechen und die Abgründe und die Verleugnungen, zu denen wir Menschen fähig sind. So wächst eine neue gemeinsame Hoffnung. So beginnen wir, frühlingshaft auch wieder neue gemeinsame Erfahrungen von Kirchesein zu machen. Davon träume ich zusammen mit Papst Franziskus und zusammen mit Ihnen allen.

„Denn alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen.“ Bitte bleiben wir als Kirche im Bistum Aachen beieinander in der Hoffnung, die dieses Wort des Apostels ausdrückt! Bitte treten Sie nicht aus der Kirche aus! Lassen Sie uns im Gespräch bleiben mit denen, die von ihren Zweifeln hin und her gerissen werden! Lassen wir uns vom Geist führen durch die Versuchungen hindurch, damit wir neu teilnehmen am österlichen Drama Jesu Christi von Untergang und Tod zur Osterfreude und zum endgültigen Leben.

Dazu segne Sie alle der Dreifaltige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Ihr Bischof Helmut Dieser