Der Druck, perfekt zu sein

Wenn Selbstoptimierung in die Krankheit führt. Erster Fachtag Essstörungen in Aachen

Der kritische Blick in den Spiegel: „Bin ich gut genug?“ – Diese Frage kennen Menschen mit Essstörungen sehr gut. (c) Taylor Smith/unsplash
Der kritische Blick in den Spiegel: „Bin ich gut genug?“ – Diese Frage kennen Menschen mit Essstörungen sehr gut.
Datum:
2. Apr. 2019
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 14/2019 | Kathrin Albrecht
Irgendetwas geht immer besser. Wir könnten organisierter sein, fitter, gesünder leben, uns mehr um die Karriere kümmern. Auch in der Gesellschaft wachsen die Anforderungen, und die Werbung gaukelt uns Hilfe vor:

Das neue Superfood, Pülverchen und Drinks, die wacher machen oder beim Abnehmen helfen, Smartwatches und Apps überwachen, was wir essen, wie viel wir uns bewegen, wie wir den Tag organisieren. „Dieser Trend zur Selbstoptimierung nimmt einen immer größeren Stellenwert in unserem Leben ein“, weiß auch Esther Flemming. Die Psychologin arbeitet im Projekt Wabe Akazia, einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kooperation mit der RWTH Aachen. Das Projekt ist außerdem Teil des Arbeitskreises Essstörungen, in dem sich verschiedene Einrichtungen der Städteregion Aachen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen haben, um junge Menschen mit Essstörungen zu unterstützen. Wie der Optimierungsdruck unserer Gesellschaft mit Essstörungen zusammenhängt, wann Selbstoptimierung zwang- und damit krankhaft wird, war Gegenstand des ersten Fachtages dieses Netzwerks. Hinter der Selbstoptimierung stecke inzwischen eine ganze Industrie: Krankenkassen gewähren Rabatte beim Beitrag, wenn Versicherte regelmäßig ihre Blutwerte oder das Gewicht übermitteln. Menschen würden so maschineller, es gehe um Leistungsfähigkeit, darum, immer das Optimum herauszuholen. Die Übergänge zu einem krankhaften Verhalten bis hin zu einer Essstörung seien fließend, sagt Flemming.

 

Ein Weg heraus ist möglich

Ruth Schwalbach leitet das Projekt „Leben hat Gewicht“ der Suchthilfe Aachen und hat in ihren Beratungen ähnliche Erfahrungen gemacht: „Menschen möchten ihr Leben steuern, ihr Selbstwertgefühl steigern. Kurzfristig mag das glücklich machen, langfristig aber nicht. Aus diesem Hoch fallen die meisten sehr schnell wieder in ein Tief.“ Auch essgestörte Menschen kennen diese Gefühle. Oft entstehe die Essstörung aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, wenn schon das restliche Leben entgleite, dann könne immerhin noch das Gewicht und das Essverhalten kontrolliert werden. Eine, die das kennt, ist Sonja Vukovic. Sie litt 13 Jahre lang an Anorexie und Bulimie und hat ihre Erfahrung mit ihrer Essstörung in ihrem Buch „Gegessen“ verarbeitet, ein Roman mit autobiografischen Zügen, wie sie es beschreibt. 15 Jahre habe sie gebraucht, seelisch und körperlich stabil zu werden, erzählt sie.

Sehr oft treten Essstörungen in der Pubertät auf. Es ist die Phase, in der junge Menschen ihre Persönlichkeit entwickeln, herausfinden, wer sie sind. Doch irgendwie bleibe dafür immer weniger Zeit, immer öfter bekämen sie von außen Impulse, wie sie zu sein hätten. „Das Ich gibt es nur im Bezug zu anderen“, schreibt auch Sonja Vukovic. Doch zu einem glücklichen, selbstbestimmten Leben braucht es viele kleine Schritte. Das wissen auch Esther Flemming und Ruth Schwalbach. Im Netzwerk unterstützen sie die Betroffenen dabei, jeden einzelnen dieser Schritte zu gehen. Was nährt einen Magersüchtigen, der fast nichts mehr isst? Was geht noch, was gibt Kraft? Wie kann es gelingen, Kinder und Jugendliche gut auf unsere Leistungsgesellschaft vorzubereiten und sie gleichzeitig vor dem Schneller, Höher, Besser zu schützen? Fragen, auf die die Expertinnen des Netzwerks beim ersten Fachtag Essstörungen ebenfalls miteinander nach Antworten suchten. Für Gäste, die auch an einer Essstörung erkrankt sind, bedeutete das Vorbild von Sonja Vukovic viel: Sie ist der Beweis, dass ein Weg heraus möglich ist.