Wären der Holocaust und die nationalsozialistische Verfolgung allein durch führende NS-Politiker an Schaltstellen der Macht möglich gewesen? Die Ausstellung „Some were neighbors – Einige waren Nachbarn“ des United States Holocaust Memorial Museums, die noch bis zum 5. Dezember im Rathaus der Stadt Düren zu sehen ist, thematisiert Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand in der NS-Zeit.
Sie stellt die Frage in den Raum, ob es für Ausgrenzung, Deportationen, offene Gewalt in der Reichspogromnacht bis hin zum Massenmord nicht ein Mitwirken der Gesellschaft brauchte. Ganz „gewöhnlicher Menschen“, die die nationalsozialistische Rassenpolitik aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichem Ausmaß unterstützten und akzeptierten – oder wegschauten, nichts unternahmen. Die Kirchenzeitung hat Sozialpsychologin Fiona Kazarovytska interviewt, die zum kollektiven Gedächtnis und dem Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft forscht.
Aus welchen Motiven haben Teile der Gesellschaft, „gewöhnliche Menschen“, die nationalsozialistische Rassenpolitik unterstützt und mitgetragen? Welchen Nährboden bedarf es dafür?
Kazarovytska: Einen Erklärungsansatz bietet die bedrohungs- beziehungsweise bedürfnisorientierte Perspektive. Diese geht davon aus, dass das Eintreten einer Notlage zu einer Bedrohung von wichtigen psychologischen Bedürfnissen führt. Beispielsweise können gesellschaftliche Veränderungen, wie das Eintreten einer Inflation, eine geschwächte Wirtschaft, Armut und Erwerbslosigkeit dazu führen, dass Menschen ein Gefühl von Sicherheitsverlust oder Kontrolllosigkeit erleben und wenig Zukunftsperspektiven sehen. Dies wiederrum kann den Wunsch nach Ordnung und Autorität verstärken, um das gesellschaftliche Chaos zu bewältigen.
Die erlebte Unsicherheit kann auch dazu führen, dass wir uns auf altbekannte Werte und Überzeugungen besinnen oder uns eine nationalistische Abschottung wünschen, die das eigene Land in den Vordergrund rückt. Damit entsteht ein fruchtbarer Boden für nationalistische und rechtspopulistische Ideologien, die oft eine bessere Zukunft versprechen. Den Menschen wird eine vergleichsweise einfache Lösung angeboten. Diese einfache Lösung liegt oft darin, eine soziale Gruppe als Schuldige oder Sündenbock zu benennen und zu versprechen, dass mit einer Bekämpfung dieser Gruppe eine bessere Zukunft eintreten kann. Im Falle des nationalsozialistischen Deutschlands waren das insbesondere die Juden, aber auch andere Gruppen, zum Beispiel Sinti und Roma.
Wie haben die Nationalsozialisten „Sündenböcke“ zu „Volksfeinden“ gemacht?
Kazarovytska: Hier lässt sich ein Kontinuum beobachten. Sündenböcke wurden Schritt für Schritt zu Feinden. Ein wichtiges Prinzip ist hier die zunehmende Dehumanisierung. Das bedeutet, dass den sozialen Gruppen, die als Sündenböcke ausgewählt wurde, zunehmend menschliche Eigenschaften abgesprochen wurden. Und damit galten die üblichen moralischen Prinzipien unseres gesellschaftlichen Miteinanders nicht mehr für diese Menschen. Dies können wir beispielsweise gut in der antisemitischen Propaganda beobachten. Während zu Beginn „die Juden“ oft in verzerrter, aber noch menschlicher Form dargestellt wurden, wurden sie später in Form von Ungeziefer oder als Ratten dargestellt. Ihnen wurde ihre Menschlichkeit abgesprochen. Diese Absprache von Menschlichkeit und menschlichen Empfindungen kann es erleichtern, die Zerstörung dieser feindlichen Gruppe als legitimes und rechtmäßiges Ziel anzusehen.
Welche Rolle haben die angesprochenen historischen Kontinuitäten gespielt?
Kazarovytska: Historische Kontinuitäten haben bei der Wahl der „Sündenböcke“ eine große Rolle gespielt. Jüdinnen und Juden wurden schon zu früherer Zeit immer wieder als Sündenböcke für verschiedenste Ereignisse benutzt, die man sich nicht erklären kann. Beispielsweise wurde ihnen die Schuld für den Ausbruch der Pest gegeben. Somit konnte man auf altbekannte Vorurteile zurückgreifen, sie wieder aufleben lassen und für die eigenen politischen Zwecke weiter ausbauen.
Wie haben die Nationalsozialisten die Bevölkerung beeinflusst, vorbereitet oder manipuliert? Welche Mechanismen gab es?
Kazarovytska: Die Nationalsozialisten haben viel mit der Macht der Autorität gearbeitet. Diese Macht wurde in einer Reihe sehr bekannter psychologischer Experimente von Stanley Milgram erstmals im Jahr 1965 untersucht. Getarnt war das Experiment als „Lernexperiment“. Den Versuchsteilnehmenden wurde gesagt, sie würden die Rolle eines Lehrers einnehmen. Als Lehrer sollten sie überprüfen, wie gut eine Person im Raum nebenan, der Schüler (der in Wirklichkeit in das Experiment eingeweiht war), Wortpaare lernt. Falsche Antworten des Schülers sollten sie bestrafen. Die Bestrafung erfolgte mit Hilfe von Elektroschocks im Bereich von 15 bis 450 Volt. Beschriftet war die Maschine, die die Elektroschocks verabreichte, nicht nur mit den Voltzahlen, sondern auch mit Angaben wie „Leichter Schock“, „Gefahr: Schwerer Schock“ oder „XXX“.
Im Raum mit der Versuchsperson, also dem angeblichen Lehrer, befand sich außerdem ein autoritärer Versuchsleiter, der ebenfalls Teil des Experiments war. Dieser hielt den Lehrer an, immer stärkere Elektroschock zu verabreichen, indem er Anweisungen erteilte wie: „Fahren Sie bitte fort“, „Das Experiment verlangt es, dass Sie weitermachen“, oder „Sie haben keine andere Wahl. Sie müssen weitermachen.“ Die Ergebnisse des Experiments zeigen, dass ein sehr großer Anteil an Versuchspersonen, über 60 Prozent, sich der Macht der Autorität beugte und den größtmöglichen Elektroschock verabreichte. Obwohl sie den angeblichen Schüler aus dem Raum nebenan vor Schmerz schreien hörten. Der Schüler hat natürlich keine wirklichen Elektroschocks erlebt, die Simulation von Schmerz war Teil des Experiments. Wichtig ist dabei zu wissen, dass, wenn Teilnehmende die Schockstärke selber wählten, also nicht unter dem Einfluss eines autoritären Versuchsleiters standen, nur wenige Prozent der Personen einen Schock mit hoher Voltzahl verabreichten. Dieser Befund zeigt, dass wir anfällig für Befehle und Gehorsam gegenüber autoritär auftretenden Personen sind. Mit dieser Macht der Autorität haben auch Nationalsozialisten viel gearbeitet.
Wie definieren Sie vor dem Kontext des NS-Regimes Mitläufertum?
Kazarovytska: Es gibt ein sehr gutes Modell von Robert M. Ehrenreich and Tim Cole, welches die verschiedenen Rollen in einem Genozid erklärt. In Anlehnung an dieses Modell würde ich Mitläufer als Personen beschreiben, die selbst nicht direkt in den Zerstörungsprozess involviert sind, aber die in der Lage sind, das Geschehen zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen.
Welche unterschiedlichen Ausprägungen gab es?
Kazarovytska: Eine wichtige Unterscheidung, die die Forscher Ehrenreich und Cole treffen, ist, ob die Mitläufer die Tätergruppe unterstützen oder sie vermeiden. Dabei bewegen sich Mitläufer oft in einem Spektrum zwischen diesen Polen. Sie können aus eigenen Sicherheitsbedenken oder aufgrund von Gleichgültigkeit die Handlungen der Täter ignorieren, obwohl sie um die Zerstörung wissen. Sie können die Handlungen der Täter aber auch unterstützen, selbst, wenn sie selbst nicht aktiv daran teilhaben. So haben viele Menschen zwar selbst keine Mitglieder der Opfergruppe getötet, aber die Nazi-Ideologie dennoch unterstützt oder sogar von ihr profitiert, indem sie sich jüdischen Besitz oder Geschäfte angeeignet oder von der Zwangsarbeit profitiert haben. Letztlich können Mitläufer aber auch die Handlungen der Täter ablehnen oder sich sogar dazu entschließen, sich aktiv dagegenzustellen und zum Beispiel den Opfern zu helfen. Das haben aber nur sehr wenige Menschen getan.
Warum haben nicht mehr Menschen geholfen?
Kazarovytska: Damit Menschen helfen, müssen verschiedene Bedingungen eintreten. Sie müssen die Situation als Notfall interpretieren, der Hilfe erforderlich macht. Sie müssen Verantwortung übernehmen und eine Entscheidung darüber treffen, wie sie helfen können. Eine große Hürde in der Zeit des Nationalsozialismus war die Übernahme von Verantwortung. Wer Opfern geholfen hat, zum Beispiel Juden versteckt hat, musste damit rechnen, bestraft zu werden und sich selbst oder die Familie Gefahr auszusetzen. Das war aber nicht die einzige Hürde. Wenn wir wissen, dass viele andere Menschen das Problem ebenfalls wahrnehmen, dann kommt es zu einem Sinken von eigenem Verantwortungsgefühl – die sogenannte Verantwortungsdiffusion.
Wenn viele zuschauen, fühlt sich niemand verantwortlich, selbst etwas zu unternehmen?
Kazarovytska: Ja. Einfach gesagt denken wir dann, dass doch auch die anderen helfen könnten und sehen uns nicht in der Verantwortung. Weiterhin kommt hinzu, dass die nationalsozialistische Propaganda es den Menschen leicht gemacht hat, die Opfer aus der Gruppe der hilfsbedürftigen Menschen auszuschließen. Hier kommt wieder die vorher angesprochene Dehumanisierung ins Spiel – wenn man den Menschen ihre Menschlichkeit nimmt, ist es leichter, die Zerstörung zu akzeptieren. Und letztlich gab es, wie besprochen, auch die Profiteure der Gewalt, die ein verringertes Interesse hatten, zu helfen.
Wer hat dennoch geholfen und Widerstand geleistet? In welcher Form und aus welcher Motivation?
Kazarovytska: Ich denke, die wichtigste Erkenntnis ist, dass die Menschen, die im Holocaust Opfern geholfen haben, „ganz normale Leute“ waren. Das bedeutet, wir können nur schwer bestimmte Merkmale ausmachen, anhand derer wir vorhersagen könnten, wer helfen würde. Wir können nicht sagen, Helfer zeichneten sich vor allem durch bestimmte religiöse Überzeugungen aus, oder Leute in bestimmten Berufsgruppen hätten besonders viel geholfen. Religiöse Überzeugungen ebenso wie Berufsgruppen spielten eher eine untergeordnete Rolle. Was wir aus Interviews mit Helfern und Opfern im Holocaust allerdings lernen können, ist, dass viele Menschen, die geholfen haben, sich nicht auf die Dehumanisierung der Opfergruppe eingelassen haben. Sie haben eine gemeinsame Identität mit den Opfern gesehen und sie als „welche von uns“ verortet. Das kann auch durch ein persönliches, geteiltes Schicksal oder persönliche Gemeinsamkeiten bestärkt worden sein, wie eigene Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt in der Familie, zum Beispiel in Kriegsgefangenschaft. Was sich in den Interviews außerdem gezeigt hat, ist, dass Menschen oftmals zunächst Personen geholfen haben, zu denen eine persönliche Beziehung bestand, zum Beispiel jüdische Freunde oder Bekannte. Interessant ist: Nachdem sie einmal jemandem geholfen hatten, halfen viele auch weiterhin.
Stehen wir heute davor, eine Wiederholung von Geschichte zu erleben? Was stärkt den (Rechts-)Extremismus und Populismus in der heutigen Zeit?
Kazarovytska: Voraussagen, ob sich die Geschichte wiederholt, kann ich als Psychologin leider nicht – auch wenn ich es gerne würde. Aber ich sehe durchaus einige Parallelen. Gerade in den letzten Jahren wurden wir mit verschiedenen Ereignissen konfrontiert, die bei vielen Menschen große Verunsicherung ausgelöst haben: Kriege wie in Syrien oder der Ukraine, vor denen viele Menschen fliehen, die Covid-19-Pandemie, sich häufende Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Unsicherheiten und Inflation. Rechtspopulistische Stimmen nutzen diese komplexen Probleme, um Ängste zu schüren und schlagen scheinbar einfache Lösungen vor. Dabei erweitern sie zunehmend den Raum des Sagbaren. Gestern habe ich in einem Interview gehört, dass Donald Trump Migranten und Migrantinnen als Tiere bezeichnet hat. Das ist in meinen Augen eine gefährliche Entwicklung.
Aachen war die erste deutsche Großstadt, die von den vorrückenden Alliierten befreit wurde. Am 21. Oktober 1944 kapitulierten die in der Stadt eingeschlossenen deutschen Truppen. Drei Monate hatten die US-Truppen von ihrer Landung in der Normandie bis an die Westgrenze des Deutschen Reiches benötigt. Ein überraschend schneller Vorstoß, der auch die Versorgungswege überdehnte, da die großen Seehäfen in Belgien und in den Niederlanden noch in deutscher Hand waren. Im Kriegswinter 1944/45 geriet der Vorstoß Richtung Rhein im Hürtgenwald zum Stillstand. Während für die Aachener wieder Frieden herrschte, starben immer noch deutsche und amerikanische Soldaten im Staatsforst Hürtgen. Die Fläche, auf der fast sechs Monate lang Gefechte stattfanden, ist größer als die erst nach dem Krieg entstandene Gemeinde Hürtgenwald. Sie umfasste Roetgen, Simmerath, Monschau, Heimbach, Eschweiler, Stolberg, Langerwehe, Nideggen, Kreuzau, Düren und Hürtgenwald.
Hitlers letzter verzweifelter Versuch, das Kriegsglück noch einmal zu wenden, scheiterte im Dezember 1944/Januar 1945 blutig, doch die Ardennenoffensive zwang die Amerikaner zunächst wieder in die Verteidigung, verlängerte die strategisch völlig sinnlosen Kämpfe. Das lange Leiden und Sterben im Hürtgenwald endete erst nach dem 23. Februar 1945, als die US-Truppen zwischen Düren und Linnich erstmals den Sprung über die Rur schafften und den Streifen Nordeifel, in dem sie fast sechs Monate festgesteckt hatten, innerhalb einer Woche hinter sich lassen konnten. Die massiven Luftangriffe der „Operation Queen“ dienten dazu, nach einer langen Periode mit schlechtem Wetter, in denen die Amerikaner und Briten ihre Luftüberlegenheit nicht ausspielen konnten, den Bodentruppen im wahrsten Sinne des Wortes den Boden für einen Vorstoß zu bereiten.