Das hätte ich sein können...

Die Notfallseelsorge Aachen hat ein Hilfsangebot für Unfallzeugen und Ersthelfer entwickelt

Wer Zeuge eines Verkehrsunfalls wird oder Erste Hilfe leistet, realisiert das Erlebte und Gesehene meist erst einige Tage später so richtig. Verarbeitet wird es in der Rückschau. (c) Foto: pixabay.com
Wer Zeuge eines Verkehrsunfalls wird oder Erste Hilfe leistet, realisiert das Erlebte und Gesehene meist erst einige Tage später so richtig. Verarbeitet wird es in der Rückschau.
Datum:
27. Apr. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 17/2021 | Andrea Thomas

Der Knall ist ohrenbetäubend, Metall kracht mit Gewalt auf Metall und verformt sich, Glas splittert – ein Verkehrsunfall ist ein traumatisches Erlebnis. Nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für Zeugen und Ersthelfer. Bekommen die Unfallopfer meist alle Hilfe, die sie brauchen, sieht das bei Letzteren oft ganz anders aus. Das soll eine Initiative der Notfallseelsorge Aachen nun ändern.

Notfallseelsorger sind auch für Zeugen und Ersthelfer ansprechbar und helfen beim Einordnen und Verarbeiten. (c) Foto: pixabay.com
Notfallseelsorger sind auch für Zeugen und Ersthelfer ansprechbar und helfen beim Einordnen und Verarbeiten.

Ich habe doch nichts, mir ist doch gar nichts passiert“, wiegelten Zeugen von Unfällen oder Ersthelfer oft ab, wenn sie nach einem Unfall gefragt würden, ob sie Hilfe brauchen. Erst recht, wenn dann auch noch von einem Gespräch mit einem Seelsorger die Rede ist, berichtet Rita Nagel, Gemeindereferentin und katholische Leiterin der ökumenischen Notfallseelsorge Aachen Stadt und Land. „Ersthelfer und Zeugen wollen so schnell wie möglich weg vom Ort des Geschehens, heim in ihr sicheres Zuhause.“ Ein natürlicher Reflex. „Am Anfang ist das Adrenalin noch so hoch, da denken sie noch nicht viel über alles nach. Das setzt erst später ein“, schildert sie ihre Erfahrung.

Oft erst nach Tagen kämen dann die Bilder und das Erlebte mit Macht zurück und ließen einen nicht mehr los. Damit kommen dann auch die Fragen: Habe ich wirklich genug getan? Habe ich alles richtig gemacht? Wie geht es den Verletzten? Haben sie es geschafft und waren rechtzeitig im Krankenhaus? Was, wenn das Opfer nicht überlebt hat? Eine Ungewissheit, die belastet. Das gilt auch, wenn Zeugen oder Ersthelfer später, zum Beispiel aus den Medien, erfahren, dass jemand verstorben ist oder dies noch am Unfallort mitbekommen, es aber erst später richtig realisieren. „Wenn jemand bei dem Unfall verstorben ist, ist das immer besonders schlimm“, sagt Rita Nagel. Nicht selten kommt, hat das Gedankenkarussell einmal begonnen sich zu drehen, dann auch noch ein weiterer Gedanke mit ins Spiel, der Betroffene aus dem Gleichgewicht bringen kann, die als Zeugen oder Ersthelfer ja meist unmittelbar nach dem Geschehen vor Ort waren: Das hätte auch ich sein können. Wäre ich fünf Minuten früher da gewesen, dann wäre mir das andere Auto reingefahren oder ich hätte nicht mehr rechtzeitig bremsen oder ausweichen können…

Visitenkarte Notfallseelsorge (c) Foto: Notfallseelsorge Aachen
Visitenkarte Notfallseelsorge

Eine Art Visitenkarte für Betroffene

In dieser Situation braucht jemand jetzt doch Hilfe und/oder professionelle Begleitung, damit das Erlebte nicht zu einem Trauma wird. Nur, wohin wenden? „Die Wenigsten wissen, dass sie uns ansprechen können und die Notfallseelsorge auch dafür zuständig ist“, berichtet Rita Nagel. Andere wissen es vielleicht, aber nicht, wie man sie im Nachhinein erreichen kann. Einige kämen über Kontakte im Bekanntenkreis zu ihnen, andere über die Leitstelle oder den Opferschutz der Polizei, die an sie weiter verweisen. Das ist Rita Nagel aber zu wenig, zumal sie den Eindruck hat, dass der Bedarf in den letzten Jahren gestiegen ist. Sie möchte daher bekannter machen, dass sie als Notfallseelsorger auch für Ersthelfer und Unfallzeugen ansprechbar sind – am Unfallort und auch danach. „Es ist wichtig, dass Betroffene wissen, es gibt Menschen, die helfen und, dass sie einen Anspruch auf Hilfe haben.“

Dazu hat sie eine Art Visitenkarte entwickelt, die in jede Geldbörse passt. Sie wendet sich direkt an Zeugen und Ersthelfer, dankt ihnen für ihren Einsatz und bietet ein Gespräch an, wenn sie das Gesehene und Erlebte nicht schlafen lässt, sie sich nervös und unruhig fühlen. Als Kontakt sind die Adresse der Notfallseelsorge Aachen und die Nummer der Leitstelle angegeben. „Mit diesen Karten möchten wir gerne auch Verkehrspolizei und Opferschutz ausrüsten, die sie dann an Zeugen und Ersthelfer weitergeben können sollen“, erläutert Rita Nagel. So hofft sie, diese Menschen zukünftig besser und gezielter erreichen zu können und auch anderen Notfallseelsorgeteams eine Anregung und Hilfe zu geben.

Eine Idee, die auf positive Resonanz stößt. „Wir haben die Karte in der ökumenischen Konferenz vorgestellt und auch im Bistum und auf Landesebene wurde die Idee sehr positiv aufgenommen.“ In den Gremien der Notfallseelsorge auf Bundesebene beschäftigt man sich ebenfalls mit dem Thema. Sollte es da ein einheitliches Angebot geben, übernähmen sie dies natürlich, erklärt Rita Nagel. Bis dahin sei ihre Karte ein guter Anfang. „Es ist großartig, dass sich da was entwickelt und die Menschen Hilfe bekommen.“

 

Sich selbst etwas Gutes tun

Die sieht, ist der Kontakt einmal geknüpft, wie folgt aus: „Wir bieten ein Gespräch an, hören zu und helfen beim Einordnen. Oft reicht es schon, demjenigen zu sagen, dass das eine normale Reaktion auf ein ungewöhnliches Ereignis ist und dass das mit der Zeit wieder in Ordnung kommt.“ Wo nötig, vermitteln die Notfallseelsorger an andere Stellen weiter. Im Gespräch versuchen sie herauszubekommen, was jemand in schwierigen Situationen hilft, wie zum Beispiel mit dem Hund rauszugehen. „Wichtig ist, dass man nicht zu Tabletten oder Alkohol greift, sondern sich selbst etwas Gutes tut. Das darf man in solch einer Situation und sollte man sich auch nicht verbieten“, erklärt Rita Nagel. All das kann helfen, ein solches Erlebnis für sich zu verarbeiten, Schuldgefühle abzubauen und damit abschließen zu können.

Die Pandemie hat auch die Arbeit der Notfallseelsorge verändert. „Wir achten auf Masken und Abstand, aber wir fahren immer noch raus und suchen den persönlichen Kontakt zu den Menschen, die Hilfe brauchen“, sagt Rita Nagel. Was schwer fällt: „Oft möchte ich jemand einfach mal in den Arm nehmen und kann das jetzt nicht.“ Wichtig sei, wer etwas Schwieriges erlebt hat, muss die Hilfe bekommen können, die er braucht – auch und gerade in diesen Zeiten.