Beim Betreten der Krefelder Kirche St. Elisabeth am Viktoriaplatz fällt der Blick direkt auf das große leuchtend rote Bild über dem Altar. In seiner Farbenpracht mutet es beinahe wie die Darstellung eines Kirchenfensters an. Bei näherer Betrachtung werden die Details, wird die Absicht des Künstlers offensichtlich.
Der in Freiburg lebende gebürtige Nigerianer Emeka Udemba hat das aktuelle Hungertuch, das vom Bischöflichen Hilfswerk Misereor initiiert wurde, geschaffen. Es trägt den Titel „Was ist uns heilig?“
„Der Künstler will mit seinem Werk aufmerksam machen auf die aktuellen Krisen, auf den gesellschaftlichen Wandel und vor allem die Klimaveränderung als fundamentale Veränderung unseres Überlebens“, erklären Ralf Horster und Irenäus Krzonkalla, Mitglieder des Pfarreirates von Heilig Geist, über die Abbildung. „Der bedruckte Stoff verdeckt außerdem das Allerheiligste hinter dem Altar. Damit soll das Fasten – auch mit den Augen – als Abstand vom täglichen Leben symbolisiert werden.“
Das farbintensive Bild ist bei genauer Betrachtungsweise eine Collage aus vielen Schichten ausgerissener Zeitungsschnipsel, Kleber und Acryl: Nachrichten, Informationen, Fakten, Fakes. Die oftmals aus Zeitungen ausgerissenen Fragmente klebt der Künstler auf den Stoff und komponiert aus ihnen etwas Neues. Auf den Bruchstücken ist unter anderem Folgendes zu lesen: „Das kostet die Welt?“, „Farbe bekennen“ oder „Interessiert der Mensch?“
Die rote Farbe kann durchaus als Warnsignal verstanden werden. In diese Fläche ragen zwei Unterarm- und Handpaare hinein. Krzonkalla: „Form und Farbe nach gehören sie zu einem dunkelhäutigen Mann und einer weißen Frau. Ihre Hände berühren gemeinsam vorsichtig die in Grüntönen gehaltene Erdkugel, geben ihr aber auch Spielraum.“ Die Kugel bleibt in der Schwebe von Halten und Loslassen, Schutz und Preisgabe.
Die Botschaft laute: „Wir halten die Zukunft der Erde in der Hand, was passiert mit ihr?“, erklären die engagierten Männer. Sie verstehen dieses Hungertuch auch als Aufwertung der Kultur der Dritten Welt. „Udemba hat die Welten mit allen Aspekten von Kultur und Klima verbunden.“
Ein Blick zurück in die Geschichte der Hungertücher. Die Idee entstammt einem alten kirchlichen Brauch, der bis vor das Jahr 1000 zurückgeht. „Es war eine Zeit, als die Menschen nicht lesen konnten. Ihnen wurde das Leben Jesu in Bildern nahegebracht. So konnten sie auch die Fastensonntage nachvollziehen.“
Gleichzeitig sei das Hungertuch mit der Art von Fastenzeit in Verbindung gebracht worden, in der kein Essen im Hause war. Es war ein Ausdruck für das Hungerleiden. In ähnlicher Form erfüllt diese Redewendung auch heute noch ihren Zweck. Sie wird dann benutzt, wenn jemand knapp bei Kasse ist oder kein Geld zur Verfügung hat. Dann „nagt er am Hungertuch“.
Die Tradition ist später weitgehend in Vergessenheit geraten, bis Misereor sie ab 1976 in zweijährigem Rhythmus neu belebte. Und so wird in St. Elisabeth nicht nur die Abbildung des aktuellen Hungertuches 2023/2024 gezeigt, sondern alle sind über den Kirchenraum verteilt. Sie stehen auf Staffeleien, hängen an der Wand, in offenen Rahmen oder eben über dem Altar.
Da ist beispielsweise das Hungertuch aus Äthiopien, das Alemayehu Bizuneh 1978 schuf. Es zeigt traditionell in elf Bildern fünf Geschichten aus der Bibel. Sie reichen vom ersten Brudermord über eine unsolidarische Menschheit, die sich von ihrem Schöpfer abwendet, bis zu der Abbildung, die zeigt, dass Jesus den Menschen ernst nimmt.
1980 werden die Werke der Barmherzigkeit zum Thema. Zu diesem Hungertuch aus dem Mittelalter soll Bruder Klaus, der Schweizer Friedensheilige von Flüe, schon zu Lebzeiten im 15. Jahrhundert angeregt haben. „Dieses Misereor-Hungertuch ist das bildgewordene Evangelium“, steht im Begleitheft.
„Leben – Wasser und Licht“ titelt Jyoti Sahi aus Indien 1984. Es lässt sich von den gottesdienstlichen Lesungen der fünf Fastensonntage inspirieren. Im Zentrum des farbenprächtigen Tuches steht die Gestalt Christi. Leuchtendes Wasser ergießt sich von oben über seine Gestalt. Auch Licht symbolisiert für den Künstler Leben.
Horster: „Bei den Exponaten handelt es sich um gerahmte Digitaldruck-Reproduktionen der Originalkunstwerke. Sie geben mit ihrer vielfältigen Bildsprache eindrucksvoll Zeugnis von der Solidarität mit den Armen, Schwachen und Ausgegrenzten. Hinzu kommt die Intention der Künstler mit ihren eigenen Eindrücken.“
In der Kirche St. Elisabeth am Viktoriaplatz sind die Hungertücher bis zum 14. März ausgestellt. Ein Begleitheft liegt aus. Danach ist die Ausstellung für den Rest der Fastenzeit in der Herz-Jesu-Kirche in Bockum zu sehen. Darauf freut sich bereits Gemeinderatsvorsitzende Barbara Mellenthin und schaut bei der Hängung zu. „Bei uns sind sie ab dem 19. März zu sehen.“
Die St. Elisabeth-Kirche ist während der Ausstellung zu folgenden Zeiten geöffnet: montags 16 bis 18 Uhr, dienstags 17 bis 18 Uhr, mittwochs 16 bis 17.30 Uhr, donnerstags 11 bis 12 Uhr und freitags 16 bis 18 Uhr. Führungen werden angeboten.
Alexander Lohner, Professor für Angewandte Ethik, führt in die Geschichte und Philosophie der Hungertücher in einem Vortrag am Dienstag, 7. März, 18 Uhr, in der Kirche St. Elisabeth, Viktoriaplatz, ein.