Kirche vom Kopf auf die Füße gestellt – so lässt sich in einem Satz die Idee hinter den „Orten von Kirche“ im Pastoralen Raum beschreiben. Was genau diese Orte sind, was sie auszeichnet und verbindet, welche Kriterien es gibt und welche Chancen sie für alle Menschen in ihrem individuellen Lebensumfeld bieten, darüber hat die KirchenZeitung mit Andrea Kett, Leiterin der Abteilung Pastorale Räume und Pfarreien im Bischöflichen Generalvikariat, gesprochen.
Frau Kett, was ist ein „Ort von Kirche“?
Kett: „Orte von Kirche“ sind nicht unbedingt reale Orte wie ein Gemeindezentrum, sondern Zusammenschlüsse von Menschen, Gruppen und Initiativen in einer Pfarrei, unterhalb der Ebene des Pastoralen Raums. Es müssen dabei keine lokal festgelegten Orte sein, es können beispielsweise Menschen sein, die sich versammeln und dem Evangelium durch ihr Wirken einen Ausdruck verleihen – das kann auch im digitalen Raum sein. „Orte von Kirche“ sind keine Ebene einer Organisationsstruktur, sondern ein Denkansatz, der mit einer neuen Ausrichtung von pastoraler Arbeit einhergeht. Wir stellen sozusagen die Kirche vom Kopf auf die Füße. Kirchliches Leben und Aufbau von Kirche sollen in Zukunft noch stärker von unten nach oben gedacht und gelebt werden, mit größtmöglicher Eigeninitiative und Selbstorganisation. Das ist – das darf man nicht verschweigen – auch eine Ressourcenfrage: Die personelle und finanzielle Ausstattung wird sich weiter verringern. Aber in erster Linie drückt sich darin die theologische Überzeugung aus, dass alle Getauften zur Mitgestaltung von Kirche und Gesellschaft beauftragt und befähigt sind.
In der Rahmenordnung „Orte von Kirche“ ist von „Kristallisationspunkten einer kreativen Konfrontation von ‚Evangelium‘ und ‚Existenz‘“ die Rede. Muss man das verstehen?
Kett: Wir erwarten nicht, dass die Rahmenordnung von allen Menschen, die sich an den „Orten von Kirche“ engagieren wollen, gelesen wird. Das ist ein Text, der sich an diejenigen richtet, die in den Pastoralen Räumen und auf den anderen Strukturebenen des Bistums Verantwortung für die Ausrichtung der pastoralen Arbeit übernehmen wollen. Den Begriff der „kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz“ hat der Pastoraltheologe Rainer Bucher geprägt. Das hört sich sehr abstrakt und theoretisch an, wird aber überall dort konkret und praktisch, wo die Botschaft des Evangeliums auf die Lebenswirklichkeit von Menschen trifft. Finde ich im Evangelium, aber auch in Angeboten der Kirche vor Ort Trost oder praktische Hilfe, wenn ich gerade in einer Krise stecke? Kann ich Lebenserfahrungen, Verlust, Scheitern, aber auch freudige Ereignisse auf der Folie des Evangeliums neu und anders deuten und mit anderen neue Ausdrucksformen für die gemeinsame Erfahrung entwickeln? All das ist mit dem Ereignischarakter von Kirche gemeint, der sich an „Orten von Kirche“ realisiert. Diese Orte können kirchennah sein, wie Messdienergruppen, Kirchenchöre oder katechetische Angebote. Es können aber auch Menschen, Gruppen und Initiativen sein, die sich für diakonische, soziale und gesellschaftspolitische Belange einsetzen und deren Arbeit in diesen Pastoralen Raum ausstrahlt.
Welche Rolle spielt der Pastorale Raum?
Kett: Er ist der Resonanzkörper, in dem „Orte von Kirche“ sich entfalten und wirken können. Auf der Grundlage der neuen Pastoralstrategie wird jeder Pastorale Raum durchdeklinieren, welche Bedürfnisse die dort lebenden Menschen haben, welche Bedarfe es gibt, welche Schwerpunkte beispielsweise im Sozialraum gesetzt werden sollen und welche neuen Dinge ins Leben gerufen werden sollten, welche Initiativen Starthilfe benötigen. Im Rahmen eines unbürokratischen Vergewisserungsprozesses hat jeder „Ort von Kirche“ die Gelegenheit, sich dem Rat des Pastoralen Raums vorzustellen und zu erklären, welchen Beitrag er für die Menschen in diesem Lebens- und Sozialraum leistet. Die Initiative dazu kann von den „Orten von Kirche“ oder von Verantwortlichen im Pastoralen Raum ausgehen, die bewusst auch Gruppierungen ansprechen, die nicht zum „inner circle“ gehören. Wichtig ist, dass das Anliegen dokumentiert wird. Beide Seiten entscheiden dann, ob der „Ort von Kirche“ zur grundsätzlichen Ausrichtung des Pastoralen Raums passt und umgekehrt.
Andrea Kett
Klingt nach einem extrem bürokratischen Prozess.
Kett: So soll es aber nicht sein! Es reicht eine kurze Dokumentation, es wird nicht nach Tätigkeitsberichten verlangt. Die Kriterien sollen niemanden ausschließen, sondern auch die Gruppierungen, die sich selbst als selbstverständlich kirchennah verstehen, dazu anregen, einmal darüber nachzudenken, wem ihr Engagement dient und warum sie sich zum Pastoralen Raum zugehörig fühlen. Außerdem kommen so Initiativen in den Blick, die bisher vielleicht nicht gesehen wurden.
Welche Kriterien gibt es?
Kett: Es gibt vier Kriterien, die den Verantwortlichen im Pastoralen Raum helfen sollen, „Orte von Kirche“ in den Blick zu nehmen und den Gruppierungen als Basis zur eigenen Selbstvergewisserung dienen können. Sie orientieren sich an den Vorgaben Freiheit, Begegnung und Ermöglichung. Ein „Ort von Kirche“ sollte „lebendig“ und „wirksam“ sein, gemeinschaftlich agieren und „Engagement und Entwicklung“ ermöglichen. Lebendig ist ein „Ort von Kirche“ zum Beispiel, wenn er einen Bezug zur Lebensrealität der Menschen im Sozialraum hat, zum Mitmachen einlädt und einen möglichen Ort der Begegnung mit Gott darstellt. Ein Ort ist wirksam, wenn er Strahlkraft entfaltet, Menschen anzieht und sich in ihm das Wirken des Heiligen Geistes ahnen lässt oder das Evangelium Jesu Christi für Menschen erfahrbar wird. Gemeinschaftlich und solidarisch ist ein Ort, wenn Menschen sich dort so, wie sie sind, angenommen und eingeladen fühlen, ihr Leben und ihren Glauben miteinander zu teilen, oder wenn sie praktische Unterstützung erhalten. Ein „Ort von Kirche“ ist ermöglichend, wenn Menschen dort ihre Begabungen entdecken und ihre Art des Christseins leben können und wenn er Vielfalt Raum gibt.
Wird hier nicht alter Wein in neuen Schläuchen vermarktet? Wird viel Aufwand betrieben, um bestehenden Gruppen und Initiativen ein neues Label zu verpassen?
Kett: Selbstverständlich gibt es „Orte von Kirche“, die schon sehr lange bestehen und eine große Tradition haben. Aber wir wollen auch die Menschen erreichen, die nicht regelmäßig, nicht mehr oder noch nie an kirchlichem Leben teilgenommen haben. Ihnen wollen wir einen Raum geben, Neues ermöglichen, Engagement selbstorganisiert voranbringen. Es ist nicht entscheidend, wie katholisch die Leute sind, die da mitmachen. Ob katholisch, evangelisch, konfessionell nicht gebunden – es zählt, sich mit der pastoralen Ausrichtung im Pastoralen Raum zu identifizieren, mitgestalten zu wollen. So kann eine ganz neue Dynamik entstehen.
Warum sollten sich „Orte von Kirche“ bewerben?
Kett: Eine wesentliche Aufgabe des Pastoralen Raums besteht darin, den unterschiedlichen „Orten von Kirche“ ihre Eigenständigkeit zu ermöglichen, aber sie auch zu fördern und miteinander zu vernetzen, indem die vorhandene Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird. Mindestens einmal im Jahr wird es eine Vollversammlung geben, zu dem alle Orte einen Vertreter/eine Vertreterin entsenden. Ein Vorteil der Vernetzung und des Austauschs ist, dass Ressourcen gemeinsam genutzt werden können. An einem Ort stehen beispielsweise noch Räume zur Verfügung, während andere Orte das Know-how haben, Mitarbeitende oder Ehrenamtliche zu schulen. Ein Vorteil ist, dass alle ehrenamtlich Engagierten automatisch versichert sind. Die hauptamtlich Mitarbeitenden des Pastoralteams stehen bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite oder organisieren Qualifizierungsmaßnahmen und Fortbildungen. Alle Orte sind unabhängig – mit der Option auf Zusammenarbeit, wo gewünscht, möglich und sinnvoll.
Gibt es auch finanzielle Unterstützung?
Kett: Den Pastoralen Räumen stehen Ressourcen für die pastorale Arbeit zur Verfügung. Das schließt auch Ressourcen für die „Orte von Kirche“ ein. Diese sind allerdings begrenzt und werden in den nächsten Jahren abnehmen. Sicherlich wird es in den Pastoralen Räumen die Möglichkeit geben, Initiativen oder Projekte finanziell zu unterstützen. Aber eine mögliche Zuwendung dürfte kaum ausschlaggebend für den Vergewisserungsprozess und eine Mitarbeit im Netzwerk der „Orte von Kirche“ sein. Es wird viel möglich sein und wir sollten viel ausprobieren. Und auch positiv damit umgehen, wenn etwas einmal nicht direkt glückt.
Haben die Menschen die Lust am Experimentieren verloren und verharren lieber im Status quo?
Kett: In vielen Gruppen und Initiativen herrscht vielmehr Angst davor, keine Nachfolger mehr zu finden, um das Bewährte aufrecht zu erhalten. Meine Erfahrung ist aber: Es ist zwar sicher für manche Verantwortliche schmerzhaft, erleben zu müssen, dass ihr langjähriges Angebot in der gewohnten Form nicht mehr gewährleistet werden kann. Häufig regt sich nach einer Pause aber bei irgendjemandem wieder das Bedürfnis für ein gewisses Gottesdienstformat, für bestimmte Aktivitäten – und dann finden sich auch wieder Menschen, die sich verantwortlich fühlen und das Angebot für eine Zeit
gestalten. Das ist häufig ein spiritueller Prozess, das wächst von unten. Eine oft geäußerte Kritik an den Strukturveränderungen im Bistum lautet, dass durch die großen Pastoralen Räume alles viel weiter weg sein wird und es keine Nähe mehr zu den Gläubigen vor Ort gibt. Wenn man den neuen Ansatz richtig verstanden hat, ist aber das Gegenteil der Fall. Was jetzt schon lebendig ist, wird erhalten bleiben, Neues kommt hinzu, getragen vom gelebten Glauben der Menschen im Pastoralen Raum. Wir können nicht mehr alles flächendeckend hauptamtlich abdecken und müssen uns auf eine andere Form von Kirche einstellen, die vom Engagement aller lebt. Wir wollen nicht auf das schauen, was wir in Zukunft nicht mehr haben werden, sondern uns daran ausrichten, was alles möglich ist. Gerade den „Orten von Kirche“ kommt dabei eine große Bedeutung zu, die viele Chancen bietet.