Das Glück liegt in der Spannung

„Die Härte des Lebens lässt sich nicht wegmeditieren“, sagt der Theologe und Autor Pierre Stutz. Doch auch wenn wir im Schlamm der Welt stecken, besteht Hoffnung. Der Wandel beginnt in uns selbst.

„Wir müssen lernen, dass der Verzicht nicht nur negativ ist. Der Verzicht nimmt nicht nur, er gibt mir auch etwas“, regt Pierre Stutz dazu an, die eigene Lebensart zu überdenken. (c) Stephan Johnen
„Wir müssen lernen, dass der Verzicht nicht nur negativ ist. Der Verzicht nimmt nicht nur, er gibt mir auch etwas“, regt Pierre Stutz dazu an, die eigene Lebensart zu überdenken.
Datum:
2. Jan. 2025
Von:
Aus der KirchenZeituung, Ausgabe 01/2025 | Stephan Johnen

„Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.“ Was aus der Feder von Christian Morgenstern stammt und auf den ersten Blick wie ein Kinderreim anmutet, bringt für den Theologen und Buchautor Pierre Stutz eine ganz wichtige Erkenntnis auf den Punkt: „Es gibt keine echten Begegnungen ohne Zwischenraum. Kultivieren Sie diese Zwischenräume.“ 

Ob im politischen Raum, wo es für komplexe Herausforderungen keine schnellen Lösungen geben kann, oder bei der Auseinandersetzung mit Leben und Tod, den Widersprüchen des Alltags und der Ambivalenz von Grausamkeit und Schönheit der Welt. „Die Härte des Lebens lässt sich nicht wegmeditieren. Wir stehen im Schlamm dieser Welt“, sagt Pierre Stutz – der im Gespräch mit der KirchenZeitung erklärt, warum das kein Grund zur Verzweiflung sein muss – und wieso Selbstfürsorge auch einen Beitrag zur Gesundung der Welt leisten kann und Hoffnung mehr ist als ein wohlklingendes Wort.

„Alles, was ich mit meinem Willen aufgebaut habe, ist wie ein Kartenhaus zusammengefallen“, sagt der Theologe mit Blick auf das Jahr 2002, als er sein Priesteramt niederlegte, sich zunächst zurückzog und ein Jahr später seinen Lebensgefährten kennenlernte und 2018 heiratete. „Heute sage ich es. Heute sage ich es – doch dann war die Angst wieder da“, blickt er auf die Geschichte seines Coming-outs zurück. 49 Jahre lang habe er Krieg gegen sich selbst geführt. „Wie habe ich es überbrückt? Durch schuften, schuften, schuften.“ Äußerlich betrachtet war Pierre Stutz immer erfolgreich, konnte all seine Lebensträume verwirklichen. „An Anerkennung hat es mir nie gefehlt, die Bücher eines kleinen Schweizers wurden auch in Europa gelesen, es gibt ein offenes Kloster. Ich danke meiner Seele, dass sie sich durch den Erfolg nicht blenden ließ“, sagt er. Und dennoch – innerlich herrschte über viele Jahre unendliche Verzweiflung.

Vor 26 Jahren hatte er ein unglaubliches, tiefes Erlebnis, als er an einem Teich stand und Seerosen beobachtete. „Warum können Seerosen so wunderbar blühen?“, fragte er sich. Weil sie im Schlamm verwurzelt sind. „Auch aus dem Schlamm kann etwas Wunderbares geschehen“, erkannte Stutz, der sich wünscht, dass Menschen wie Seerosen sein dürfen, die sich immer wieder öffnen, aber immer auch zurückziehen dürfen, Nein sagen dürfen.

„Es ist nie zu spät auszubrechen“, sagt Pierre Stutz. Wir können an der Härte des Lebens zerbrechen, oder lernen, selbst mit uns gut umzugehen, damit das Wirkung auf die ganze Welt hat. „Alles in unserem Leben ist meist so eingerichtet, dass wir auf andere Rücksicht nehmen, das ist unsere Lebensaufgabe. Aber Rücksicht beginnt bei einem selbst. Wir müssen unsere Herzen nicht nur für andere öffnen, sondern auch für uns selbst. Ich flehe Sie an: Achten Sie auf ihren Körper, hören Sie auf ihren Körper. Er möchte Ihnen sagen, wohin die göttliche Segenskraft Sie führen möchte“, erklärt der Theologe. „Es ist nie zu spät, so zu werden, wie wir von Anfang an gemeint sind: geborgen und frei.“

 

Manche Pause ist notwendig – um zu leben. „Dies ist kein Scheitern. Wir halten den Druck und die Schnelligkeit sonst nicht aus“, sagt Pierre Stutz. (c) Natalie Graininger/unsplash.com
Manche Pause ist notwendig – um zu leben. „Dies ist kein Scheitern. Wir halten den Druck und die Schnelligkeit sonst nicht aus“, sagt Pierre Stutz.

Selbst musste er erst am Abgrund stehen, in der vermeintlichen Sackgasse des Lebens, um dies zu erkennen: „Als Mensch ist das Wesentliche immer schon da. Was auch immer sich an Verwundungen in einem Leben angehäuft hat – wir sind mehr als das. Wenn wir Gottes Liebe in uns wieder freilegen, kann sich die göttliche Kraft noch mehr entfalten.“ 
Das Glück, sagt Pierre Stutz, liege in der Spannung, nicht in der Auflösung der Spannung. „Wirklich glücklich bin ich, wenn ich auch jeden Tag unglücklich sein darf“, gibt er zu bedenken. Das Verzweifeln, das Trauern, gehöre ebenso dazu, wie das Leben in höchster Fülle zu erfahren.

Leben sei immer leicht und schwer, hell und dunkel, lachen und weinen, Tag und Nacht. „Wer sich wie Jesus dem Leben in die Arme wirft, wird immer wieder staunen, Freude empfinden“, sagt er. Ja, es gebe viel Ungerechtigkeit und Gewalt in der Welt, Ereignisse, die Menschen zweifeln lassen, die Hoffnung zu ersticken vermögen. „Es bedarf eines Aufstands für gute Nachrichten! Es gibt so viel Grausamkeit in der Welt, aber auch so viel Gutes, was gerade geschieht. Nur wird nicht darüber berichtet. Dagegen sollten wir aufstehen“, fordert er. „Die Härte des Lebens lässt sich nicht wegmeditieren, wir stehen im Schlamm dieser Welt“, sagt Stutz. Doch wie bei den Seerosen müsse dies nicht bedeuten, dass die Welt im Schlamm versinkt und nicht zu einem heiligen Ort werden kann.

 

„Ich nehme wahr, dass bei vielen Menschen eine unglaubliche Verunsicherung herrscht“, sagt Pierre Stutz. Eine Verunsicherung, die längst auch einst tragende Institutionen wie Kirche und Vereine ergriffen hat. Hinzu kämen Identitätsfragen: Wo gehöre ich dazu? Was gibt mir Halt? „Ich kann auch mit Blick auf die Politik verstehen, dass Menschen einfache Antworten wollen. Mit einfachen Antworten tue ich mich aber schwer, auch politisch“, betont Stutz. Er zieht stattdessen Tod und Auferstehung heran – das Credo eines jeden christlichen Menschen. „Über Karfreitag und Ostern wird viel in der Bibel erzählt. Aber wenig von Karsamstag, wenn das Alte nicht mehr trägt, aber das Neue noch in weiter Ferne ist“, sagt er. Klar sei: Tragfähige und gerechte politische Lösungen ließen sich nur selten schnell anbieten. „Wir brauchen Ermutigung, in das Nichts hinein zu treten“, erklärt er. Die Ungewissheit auszuhalten – voller Vertrauen auf eine Lösung hinzuarbeiten, keine Angst vor der Zukunft zu haben.

„Ich kenne diese Verunsicherung und Sorgen auch. Aber ich halte jeden Tag Ausschau auf das, was mich stärkt, was mir gelingt. Viele biblischen Geschichten und prophetische Texte sind in Unrechtssituationen entstanden und zugleich werden Visionen (Schwerter zu Pflugscharen umwandeln) entworfen. Das möchte ich in uns stärken: Resilienz, dass wir trotzdem Hoffnung haben, dass wir einander unterstützen.“ Wie an Karsamstag trage oftmals das Alte nicht mehr und das Neue sei noch weit weg. Aber auch diese Phase könne ausgehalten, erduldet und sogar gestaltet werden. „Wir haben keine Kultur des Stillstands. Solche Phasen werden oft negativ gesehen, wir haben keine Geduld mehr. Dieser Zwischenraum ist für uns blanker Horror“, bilanziert Pierre Stutz.

Aber gerade in diesem Zwischenraum zwischen dem Alten und dem Neuen, dieser Phase der Transformation, liege ein unglaubliches Potenzial. Stutz: „Jetzt kann etwas passieren. Leere – dieses Wort ist das Zentrum der Mystik. Wir haben stattdessen Angst, die Kontrolle zu verlieren, Sicherheit zu verlieren. Wir brauchen aber mehr Visionen in Zeiten des Stillstands, müssen andere Ansätze finden, unsere alten Denkmuster aufgeben.“ Manche Pause sei notwendig – um zu leben. „Dies ist kein Scheitern. Wir halten den Druck und die Schnelligkeit sonst nicht aus“, fordert Pierre Stutz auch hier mehr Selbstfürsorge, die nicht mit Selbstoptimierung verwechselt werden dürfe. „Unser Leben ist immer beleuchtet, Tag und Nacht auf Strom, wir stehen Tag und Nacht unter Strom, sind immer online, haben den Rhythmus des Lebens ausgesetzt“, beobachtet der Autor.

Eine Lösung des Dilemmas? Entschleunigung beispielsweise. Je schneller die Zeit werde, desto weniger Raum gebe es für Freiheit, für göttliches Wirken, für uns selbst. „Jetzt sei Du du – das tut dir gut, der Schöpfung gut, der Welt gut. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist die eigenen Talente zu vergraben. Aus Angst, etwas falsch zu machen“, ermutigt Pierre Stutz dazu, die Spirale zu durchbrechen. Und es sei dringend Zeit für Verzicht. „Wir müssen lernen, dass der Verzicht nicht nur negativ ist. Ich fahre seit 40 Jahren nicht mehr Auto. Natürlich ist das mühsam, auf die Züge zu warten. Aber wir haben keine Zukunft, wenn wir unsere Ressourcen immer weiter ausbeuten. Der Verzicht nimmt mir nicht nur, er gibt mir auch etwas. Das sollten wir mehr auskosten“, sagt Pierre Stutz. Was ebenfalls zu kurz komme in der Welt, sei Humor. „Das Negative zieht uns viel mehr an. So sind wir halt. Aber der Humor ist da, wir können über uns selbst lachen. Nicht defizitär, um etwas negativ zu deuten, sondern um die Kraftquellen freizulegen. Humor ist eine Kraftquelle, um mitten im Leben zu stehen, inmitten in dieser wunderbaren Schönheit des Lebens.“

Zur Person

Pierre Stutz, geboren am 7. November 1953 in Hägglingen im Schweizer Kanton Aargau, zählt zu den bekanntesten spirituellen Lehrern im deutschsprachigen Raum. In seinen Vorträgen, Seminaren und in seinen über 40 Büchern geht es um Themen wie Achtsamkeit, die bewusste Auseinandersetzung mit seelischen Verwundungen, innere Versöhnung und die Suche nach einem eigenen, spirituellen Weg. „Insgesamt mehr als 1.000.000 verkaufte Exemplare und Übersetzungen in sechs Sprachen zeigen mir, dass mein persönliches Suchen ein Phänomen ist, das viele Menschen teilen“, sagt er.

Mit 20 Jahren trat Pierre Stutz in einen katholischen Orden ein, studierte Theologie, wurde im Bistum Basel zum Priester geweiht, arbeitete als Jugendseelsorger und Hochschul-Dozent. 1994 initiierte er mit Gleichgesinnten die Abbaye de Fontaine-André, ein „offenes Kloster“. Es ist eine Gemeinschaft von Frauen und Männern, auch verheirateten, die miteinander leben und eine Spiritualität im Alltag suchen und leben. 2002, im Alter von 49 Jahren, legte er sein Priesteramt nieder. Ein Jahr später lernte er seinen Lebensgefährten kennen, den er 2018 heiratete und mit dem er seitdem in Osnabrück lebt. 

Autobiographie

(c) bene! Verlag

Zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2023 hält Pierre Stutz Rückschau auf sein Leben und veröffentlicht eine Autobiografie, die mittlerweile in der vierten Auflage vorliegt. „Jahrelang war mein Leben ein Ringen um Selbstannahme, äußerlich sehr erfolgreich, innerlich zerrissen, gefangen in der Angst vor Ablehnung“, sagt er. In seinem Buch „Wie ich der wurde, den ich mag“ schreibt er über das Ringen um seinen Weg im Leben. Und wie es dazu kam, dass er heute der Mensch ist, den er mag. „Es tut mir gut, rund um meinen 70. Geburtstag mit einem versöhnten Blick auf mein Leben zu schauen“, schreibt er in der Einstimmung.

Pierre Stutz, „Wie ich der wurde, den ich mag“, bene! Verlag, 
ISBN 978-3-96340-245-6, 22 Euro