Das Ende der Finsternis

Große Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn mit Leihgaben aus der Aachener Domschatzkammer vermittelt die Antikenbegeisterung des Frühmittelalters und tritt den Beweis an, dass die Epoche zu Unrecht als „finster“ bezeichnet wird

(c) Domkapitel Aachen/Alexander Müller
Datum:
24. Sept. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 39/2024 | Daniela Lövenich

Wie gelangte antikes Wissen über das Mittelalter bis in die Gegenwart? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine große Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn, an der die Aachener Domschatzkammer mit vier Leihgaben beteiligt ist. Unter dem Titel „Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“ tritt das Museum den Beweis an, dass das Mittelalter zu Unrecht als „finster“ bezeichnet wird.

Das frühmittelalterliche Bursenreliquiar von Enger hat die Form einer Tasche und befindet sich seit 1885 im Besitz des Berliner Kunstgewerbemuseums. (c) Harald Morsch
Das frühmittelalterliche Bursenreliquiar von Enger hat die Form einer Tasche und befindet sich seit 1885 im Besitz des Berliner Kunstgewerbemuseums.

Mit insgesamt 120 einzigartigen und kostbaren Exponaten aus 50 europäischen und US-amerikanischen Museen, Archiven und Bibliotheken beleuchtet das Diözesanmuseum insbesondere die Rolle mittelalterlicher Klöster als Bewahrer und Verbreiter antiken Wissens über Politik, Philosophie, Kunst, Architektur und Literatur.

Ein herausragendes Beispiel für eine mittelalterliche „Denkfabrik“ war das etwa 60 Kilometer von Paderborn entfernt liegende ehemalige Benediktinerkloster Corvey. Die Äbte des Klosters besaßen weitreichende Verbindungen nach Rom und Byzanz und gehörten zu den Gelehrten des karolingischen Hofs. Sie machten die Abtei am Weserbogen zu einem Zentrum der Übermittlung antiker Schrift, Architektur und Wandmalerei. Das 1200. Jubiläum der Klostergründung und die Anerkennung als Unesco-Welterbe vor zehn Jahren sind Anlass der Sonderausstellung.

Trotz der jahrelangen und arbeitsintensiven Vorbereitungen ist Kuratorin Christiane Ruhmann die Begeisterung für das Thema immer noch deutlich anzumerken: „Wenn man heute ans Mittelalter denkt, hat man oft zahnlose Mönchlein vor Augen, die im Dunkeln sitzen und ihren Haferbrei schlürfen. Wir wollen zeigen, dass ein Aspekt dieser angeblich so düsteren Zeit eine große Antikenbegeisterung war. Ohne die Überlieferung der antiken Ideen wüssten wir heute sehr viel weniger, denn das schriftlich festgehaltene Gedankengut auf Papyrus hätte die Zeit nicht überdauert!“ Besonders glücklich sind Ruhmann und Museumsdirektor Holger Kempkens über das große Vertrauen, das die vielen Leihgeber dem Museum entgegenbringen. 

Museumsdirektor Holger Kempkens, Aachens Schatzkammerleiterin Birgitta Falk und Kuratorin Christiane Ruhmann (hintere Reihe) stehen zusammen mit den drei Leihgeberinnen aus Florenz, Paris und Leiden vor der prominent platzierten Bärin. (c) Harald Morsch
Museumsdirektor Holger Kempkens, Aachens Schatzkammerleiterin Birgitta Falk und Kuratorin Christiane Ruhmann (hintere Reihe) stehen zusammen mit den drei Leihgeberinnen aus Florenz, Paris und Leiden vor der prominent platzierten Bärin.

Fast täglich waren im Vorfeld der Eröffnung Kisten mit kostbarer Fracht in Paderborn eingetroffen, darunter so faszinierende Exponate wie die „Burse von Enger“ aus dem Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin. Das Goldschmiedewerk aus dem 8. Jahrhundert wird erstmals zusammen mit Stücken von vergleichbarem Rang gezeigt, zum Beispiel mit der „Großen Fibel von Dorestad“ – einer goldenen Gewandspange aus dem Rijksmuseum van Oudheden in Leiden. Das Musée de La Cour d’Or in Metz hat die erhaltenen Teile des reichverzierten Sarkophags von Ludwig dem Frommen, dem Gründervater der Abtei Corvey, geschickt.

Die Stiftsbibliothek St. Gallen stellte kostbare Fragmente eines Werks des römischen Dichters Vergil zur Verfügung. Corvey selbst trägt mit der fast 1200 Jahre alten originalen Inschriftentafel vom Westwerk der mittelalterlichen Abteikirche zur Ausstellung bei. 
Aus der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz reiste eine mittelalterliche Abschrift der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus zurück in ihre ostwestfälische „Heimat“: Das Geschichtswerk berichtet über die Zeit vom Tod des Kaisers Augustus bis zum Tod Neros.

Der „Corveyer Tacitus“ war zu Beginn des 16. Jahrhunderts das einzig erhaltene Exemplar des Textes überhaupt. Die Medici ließen das Buch aus Corvey nach Florenz entführen, wo sein Text gedruckt und so wieder in zahlreichen Exemplaren verbreitet wurde. „Hätte diese Abschrift in Corvey nicht überlebt, wüssten wir heute beispielsweise nicht, dass die legendäre Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus im Teutoburger Wald stattgefunden hat“, erläutert die Leihgeberin des wertvollen Schriftstücks, Bibliotheksdirektorin Francesca Gallori.

Das Aachener Domkapitel hat gleich vier Ausstellungsstücke entsandt: eine vermutlich römische oder karolingische Bronzebasis, die in der Zeit vor der französischen Besatzung eine der Säulen des Hochmünsters im Dom trug, den sogenannten Quadrigastoff, bei dem es sich um das Fragment eines byzantinischen Seidengewebes aus dem 8. oder 9. Jahrhundert handelt, sowie karolingische Mosaiksteinchen, im Fachjargon „Glasmosaik-Tesserae“ aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Aus der Vorhalle des Aachener Doms ist die bronzene Bärin nach Paderborn gereist.

In den nächsten Monaten muss die Aachener Bevölkerung aus diesem Grund auf ihre „Lupa Carolina“ verzichten. Anlässlich der Paderborner Ausstellung wurde die Bronzeplastik wissenschaftlich untersucht. Die spannenden Ergebnisse wurden jetzt erstmals im begleitenden Katalog publiziert. 

Ausstellung

Eines der wichtigsten Exponate der Ausstellung in Paderborn: die Bärin aus dem Aachener Dom. (c) Besim Mazhiqi

Laufzeit
21. September 2024 – 26. Januar 2025

Öffnungszeiten/Tickets 
Dienstag bis Sonntag 10–18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat bis 
20 Uhr. 12 Euro /ermäßigt 6 Euro, freier Eintritt für Kinder bis 12 Jahren

Das umfangreiche Veranstaltungsprogramm, eine Reihe von Videointerviews mit an der Ausstellung beteiligten Forscherinnen und Forschern sowie weitere Informationen zu Tickets und Anfahrt sind hier zu finden: www.erbe-der-antike.de.