In einem ausführlichen Interview mit Georg Löwisch in der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“ betont Bischof Helmut Dieser, wie wichtig es für ihn ist, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist: „Gott sagt immer: Du kannst sein, wer du bist, wenn du nur wirklich willst. Dazu gehört für ihn auch die Freiheit.“
Daraus resultiert, dass die Kirche Menschen nicht gängeln darf. Das sei früher anders gewesen, was zu Druck und Ängsten geführt habe. Erst mit der „sexuellen Revolution“ hätten Veränderungen begonnen.
Das würde nicht die Gebote außer Kraft setzen, die ein Geländer dafür seien, „wie der Weg Jesu gelingen kann“. Ihre Auslegung und Anwendung müssten aber immer an die jeweils aktuelle Zeit angepasst werden. Denn das Leben stelle immer neue Themen. Das sei aber nicht relativistisch zu verstehen. Als Beispiel wählt Dieser das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“, das früher nie im Zusammenhang mit der Todesstrafe verstanden wurde. Mittlerweile sei das auch im Katechismus geändert worden, ein Beispiel dafür, dass Veränderungen auch von unten her kommen können – in diesem Fall durch eine österreichische Initiative.
Auf die Frage nach den strengen Regeln der Kirche im Bereich Sexualität, die auch im von ihm mitgeleiteten Forum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“ eine Rolle spielen, sagt der Bischof: „Manche Regeln entsprechen tatsächlich einer fragwürdigen Auffassung von Sexualität. Es gibt bestimmte blinde Flecken in der Sexualmoral, da muss der Blick weiter werden.“
Grundsätzlich sei die dual geschaffene Sexualität als sinnstiftend zu verstehen, dass aus ihr – neben erotischer Anziehung – auch neues Leben entstehe. Daneben gebe es aber auch die Anziehung vom eigenen Geschlecht. Auch diese Menschen würden der gottgewollten Regung „Nicht-bei-mir-bleiben-wollen“ folgen, da die Spielarten der Sexualität vielfältig seien. In diesen Fällen von Sünde zu reden, sei falsch. Denn auch dies sei von Gott gewollt: „Was wir in der Schöpfung vorfinden, ist gut. Homosexualität ist keine Panne Gottes, sondern gottgewollt im selben Maß wie die Schöpfung selbst: Er sah, dass es gut war, heißt es in der Schöpfungsgeschichte.“
In diesem Bereich habe sich auch seine Sicht verändert: „Ich habe dazugelernt – durch viele Gespräche auf dem Synodalen Weg, durch Begegnungen mit Jugendlichen und jungen Menschen und durch die Auseinandersetzung mit den Fortentwicklungen in den Humanwissenschaften.“ Sünde sei für ihn liebloses Verhalten gegenüber anderen – Liebe aber könne keine Sünde sein, wenn sie in verbindlichen Paarbeziehungen gelebt werde.
In der Frage einer Segnung für homosexuelle Paare könne er als Bischof nicht offiziell das Gegenteil römischer Aussagen regeln, überlasse es aber der Gewissensentscheidung einzelner Seelsorgerinnen und Seelsorger, über den Segen für ein ganz bestimmtes Paar zu entscheiden.
Auch beim Thema Binarität habe sich seine Sichtweise geändert, er glaube mittlerweile, dass es die nicht zu 100 Prozent gäbe. Nicht alle Menschen würden in gleicher Weise spüren, männlich oder weiblich zu sein. Manche würden sich als dazwischen empfinden, andere würden dies für sich offenlassen. Er sei dafür, in diesen Fällen den Begriff divers zu übernehmen. Dies solle zum Beispiel künftig auch für Einträge in Taufbüchern möglich sein.
Beim Thema Empfängnisverhütung wünscht sich der Aachener Bischof eine Neueinschätzung kirch-licherseits. Eltern müssten – in Verantwortung vor Gott – selbst entscheiden, wie viele Kinder sie bekommen, da-bei sei die Wahl des Verhütungsmittels zweitrangig. Empfängnisverhütung zu empfehlen, stärke seiner Ansicht nach den Lebensschutz. Die Pille danach und Abtreibung seien aber für ihn tabu.
Das Festhalten an Regeln, die nicht mehr befolgt werden, sei nicht sinnvoll. „Wir dürfen die Weiterentwicklung der Lehre nicht einfach verweigern. Die Kommunikation und das Ringen um Veränderung muss weitergehen. Dazu ist der Synodale Weg da.“ Die Ergebnisse dessen seien auch nicht „irgendwelche Papierchen“, die Zweidrittelmehrheiten der Bischöfe und der beteiligten Laien würden den Texten des Synodalen Weges eine „enorme Autorität verleihen“. Darüber hinaus sei jeder Bischof frei, die Ergebnisse in seinem Bistum anzuwenden.
Dabei sei der Blick nicht nur auf Deutschland gerichtet: „Was wir mit Zweidrittelmehrheit annehmen, bringen wir in den weltweiten Synodalen Weg ein.“
Auf die Frage nach der vatikanischen Erklärung zum Synodalen Weg meint Bischof Dieser, dass es nicht richtig gewesen sei, die Erklärung ohne Absender zu versenden. Das hätte der Papst bei einem Pressetermin im Flugzeug erklären müssen, dies stelle eine große kommunikative Panne dar. „Wenn bei uns hier in Aachen ein Dokument rausginge, das die Autorität des Bischofs beansprucht, ohne dass ein Absender draufsteht, da würde jeder den Kopf schütteln.“
Kein deutscher Bischof oder ein anderes Mitglied des Synodalen Weges wolle eine Abspaltung von Rom. Es bestünde aber der Wunsch nach Vertrauen aus
Rom und der Möglicheit, Neues zu denken. Die Gefahr einer Spaltung würde durch die Verweigerung von Reformen eher größer.
Die rigide Sexualmoral der Vergangenheit ist für Dieser mit eine Ursache des Missbrauchsskandals. Abweichungen von der sexuellen Norm seien kaum ansprechbar gewesen; Männer hätten auch gedacht, dass sie durch den Zölibat ihre „Sexualität völlig auf null stellen“ könnten. Dies sei aber nicht möglich. Für sein Leben sei der Zölibat aber ein Gewinn. Sexualität sei eine Kraft, die über das eigene Ich hinausführt, „Gemeinschaft, verschenken und sich geben und einander überraschen“. Dies würde in der Sexualität in besonderer Weise gelebt, wäre aber auch in der Gottesbeziehung möglich. Auch die Spiritualität kenne das Ekstatische, man müsse von Christus „hingerissen“ sein. Wer Priester werden wolle, müsse merken, ob er zu etwas hinwolle, das ihn erfüllt. „Dann kann ich mich prüfen, ob ein eheloses Leben für mich eine fürchterliche Zumutung ist oder zuversichtlich von mir gewählt werden kann. Nur wer im Vertrauen auf Gott und im Zusammenleben mit Jesus sicher spürt, dass er nicht zum Loser wird, der das Schönste im Leben verpasst, sollte den Zölibat wählen.“ Das bedeute aber nicht, dass er nicht auch manchmal einsam sei. Auch ein Priester brauche Intimität, Menschen, denen er sich anvertrauen kann und bei denen er auch einmal schwach sein darf. Er selber habe noch nie gedacht, das Falsche gewählt zu haben.
Der Zölibat sei etwas Biblisches, nichts im Mittelalter Ausgedachtes. Dieser biblische Bezug ist für Bischof Dieser wichtig: „Wenn ein Priesteramtskandidat bei der Diakonenweihe Gott in seinem Leben auf die Nummer eins setzt und für Jesus die Form der Ehelosigkeit wählt, dafür kann ich mich begeistern. Aber auch wenn ein schon verheirateter Mann später geweiht würde – da wäre ich offen, weil auch das biblisch ist. Wir brauchen Priester, wir haben zu wenige.“
Nach der Synodalversammlung und der Bischofskonferenz wird der Aachener Bischof, wie andere Bischöfe auch, nach Rom fahren. Und es gibt ein Ergebnis, mit dem er gerne aus Rom zurückkehren würde: „Ich wünsche mir von den Päpstlichen Stellen, dass sie sehen, welchem Problem-stau wir uns stellen und wie konstruktiv wir das lösen wollen. Wenn wir immer nur gemahnt werden, wird das irgendwann ein bisschen ärgerlich. Da wäre ein Wort des Mutmachens aus Rom nötig.“
Dieser ist für sein Amt auch wichtig, nicht als absolutistischer Herrscher zu agieren, für ihn kommt es darauf an, die Sendung der Apostel weiterzuführen. Das Amt sei nicht sein Besitz und sollte eine Situation eintreten, dass er zu der Überzeugung käme, „dass jetzt mein Dienst und meine Person verbrannt sind, muss ich die Demut haben, zuzugeben: Ihr braucht einen anderen Bischof!“ Da müsse es neue Regelungen geben, da bisher alles von der Entscheidung des Papstes abhänge.