„Bin nicht andere Blinde‘“

Der Juni war Monat der Sehbehinderung. Eine Betroffene berichtet von Alltagsfreuden und -hürden

erstin Konzer an einem eigens für sie eingerichteten Rechner mit angeschlossener Lesehilfe. (c) Andrea Thomas
erstin Konzer an einem eigens für sie eingerichteten Rechner mit angeschlossener Lesehilfe.
Datum:
29. Juni 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 26/2022 | Andrea Thomas

Kerstin Konzer ist ein freundlicher, positiver Mensch, der seinen Mitmenschen ein wenig zurückhaltend, aber neugierig und offen begegnet. Sie setzt sich für andere ein, selbstbewusst und mit freundlicher Hartnäckigkeit. Sie weiß sich auszudrücken und achtet im Gespräch mit anderen auf Zwischentöne. Das macht sie zu einer guten Zuhörerin, ist für sie aber auch wichtig, um ihr Gegenüber einzuschätzen, denn Kerstin Konzer ist von Geburt an blind. 

Mit ihrer Blindheit hat sie sich im Alltag arrangiert, auch dank Unterstützung und Hilfsmitteln. (c) Andrea Thomas
Mit ihrer Blindheit hat sie sich im Alltag arrangiert, auch dank Unterstützung und Hilfsmitteln.

Eine Behinderung, mit der sie ihm Alltag mit der nötigen Unterstützung ganz gut zurechtkommt. Aufgewachsen ist sie in Herzogenrath-Hofstadt mit Eltern, die sie gestützt und unterstützt haben. Ohne die Hilfe ihrer Mutter, die immer für sie gekämpft habe, hätte sie vieles nicht geschafft, sagt die 42-Jährige dankbar. Die Mutter ist bis heute eine wichtige Hilfe für sie. Eine weitere wertvolle Unterstützerin ist ihre Freizeitassistentin, mit der sie backt, kocht oder Veranstaltungen besucht. „Ich brauche Hilfe im Haushalt. Das kostet mich sonst zu viel Kraft. Und es ist auch schön, mit jemandem etwas unternehmen zu können.“ Kerstin Konzer liebt die Kirmes. Beim Karussellfahren (mit guter Sicherung), könne sie alles vergessen, fühle sie sich schwerelos, erzählt sie.

Dank dieser Unterstützung von außen ist es für sie auch möglich, in ihrer eigenen kleinen Wohnung zu leben. Mit einer festen Ordnung und einer Reihe technischer Helfer. Ihre „Alexa“ – die Sprachbox eines nicht ganz kleinen Internetkaufhauses – mag sie nicht missen, zum Beispiel zum Musikhören. „Sicherlich macht man sich damit auch gläsern, da ist Technik Segen und Fluch zugleich. Mir aber erleichtert das das Leben sehr“, sagt sie. Außerdem habe sie seit Kurzem eine nette Nachbarin, die ihr zum Beispiel mit 
ihrem neuen sehbehindertengerechten Handy geholfen habe. So könne sie für sich sein, wenn sie das möchte, wisse aber auch, wen sie ansprechen könne, wenn sie Hilfe brauche.

Als Mensch, nicht als Fall gesehen werden

usfahren ist für die meisten Menschen und auch viele Menschen mit Sebehinderung kein Problem. Für Kerstin Konzer ist es eine unüberwindliche  Hürde. (c) Mitchell Johnson/Unsplash
usfahren ist für die meisten Menschen und auch viele Menschen mit Sebehinderung kein Problem. Für Kerstin Konzer ist es eine unüberwindliche Hürde.

Und ohne die geht es nun einmal nicht in einer Welt, die von und für Menschen gemacht ist, die sehen können. Dass – obwohl technisch gar nicht so aufwendig – nur wenige Fernsehsender die Funktion Audiodeskription bei Filmen und Serien anbieten, ist schade und ärgerlich. Ebenso, dass abgesenkte Bordsteinkanten immer noch nicht zum Standard gehören, was nicht nur Blinden, sondern auch gehbehinderten Menschen oder Müttern mit Kinderwagen das Leben sehr erleichtern würde. Was Kerstin Konzer wütend und traurig macht, sind Menschen, die sie behindern, weil sie sich nicht auf ihre Behinderung einstellen können – oder wollen. Immer wieder hat sie das vor allem bei offiziellen Stellen erfahren müssen, wenn man nicht sie als Menschen, sondern nur den „Fall Konzer“ gesehen habe.

Von 1986 bis 1997 besuchte Kerstin Konzer die Blindenschule in Düren, danach für zwei Jahre eine Berufsschule und machte eine Schulung als Telefonistin. Im Anschluss erkrankt sie schwer und ist in der Folge nicht mehr voll belastbar. Für das Arbeitsamt ist sie damit für den allgemeinen Arbeitsmarkt „nicht vermittelbar“. Weitere Hilfe bekommt sie hier keine. Sie würde gerne freiwillig in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten. Doch auch dabei bekommt sie zunächst keine Unterstützung. Erst als sich die Klinik, in der sie zur Rehabilitation war, für sie einsetzt und erklärt, sie werde sonst depressiv, bekommt sie schließlich einen Platz.

„Am 12. Mai 2004 begann mein Glück“, sagt sie heute. An diesem Tag fängt sie bei den Caritas-Betriebs- und Werkstätten (CBW) an, zunächst im Werk in Alsdorf, seit 2020 ist sie im Werk in Würselen tätig. Hier hat sie in der heilpädagogischen Gruppe ihren Platz gefunden. Die Gruppe ist klein, was ihr hilft, sich besser zu orientieren. Hier hat sie keinen Arbeitsdruck und kann ihre sozialen Fähigkeiten ausleben. Zum Beispiel Singen, das macht sie glücklich, und so singt sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen Lieder passend zu den entsprechenden Jahreszeiten oder auch Kinderlieder. Es ist ihre Art, Freude zu teilen und anderen Freude zu bereiten.

Doch in ihr steckt auch eine Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Gesamtwerkstattrates der CBW und setzt sich in Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Verwaltung oder dem Landschaftsverband Rheinland als Kostenträger auseinander. Immer wieder bricht sie dabei eine Lanze für die Werkstätten als „Sonderwelten“. „Es muss Orte geben, an denen Menschen mit Behinderung aufgefangen werden. Wenn Inklusion und die Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt funktionieren, dann ist das super. Aber das schafft nicht jeder.“

Wogegen sie sich wehrt, sind Pauschalisierungen, damit komme man nicht weit. Sie selbst kommt im Straßenverkehr nicht allein zurecht, kann nicht allein mit Bus und Bahn fahren, was ihr den Satz einer verständnislosen Verwaltungsmitarbeiterin: „Andere Blinde können das doch auch“, eingetragen hat. „Ich bin nicht andere Blinde. Ich bin ich“, sagt sie. Menschen mit Behinderung seien Individuen, und als solche möchten sie auch gesehen werden. „In Schulen müsste mehr aufgeklärt werden, was es zum Beispiel heißt, blind zu sein“, sagt sie. Damit, davon ist Kerstin Konzer überzeugt, würde auch das Verständnis wachsen für Menschen, deren Welt eine andere ist, als die der meisten von uns.