Es war schon schwere Kost, mit der sich die Klasse 9c des Bischöflichen Pius-Gymnasiums da beschäftigt hat. Bei einer Fahrt ins Emsland hat sie die Kriegsgräberstätten Meppen-Fullen und -Versen sowie die Gedenkstätte Esterwegen besucht, die an die Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnern.
Eine Fahrt, die in den Jugendlichen aus Aachen nachwirkt. Was sie gesehen und gehört haben, hat sie nachhaltig beeindruckt. Geschichte, die sie bislang aus Büchern kannten, hat vor Ort noch einmal eine ganz andere Dimension und Gewicht bekommen. So könne man das viel besser begreifen und verarbeiten, als wenn man nur darüber liest, ist sich die Klasse einig. Und zu wissen, was damals geschehen ist, was Menschen anderen Menschen Schlimmes angetan haben, sei wichtig, vielleicht wichtiger denn je angesichts eines neuen Krieges in Europa.
Auch deshalb war die zweitägige Fahrt Lehrer Hermann Krüssel eine Herzensangelegenheit. „Bildung hat mit Nachhaltigkeit zu tun: Aus der Vergangenheit lernen, um die Gegenwart zu verstehen und Fehler in der Zukunft zu vermeiden“, erklärt er. Putin solle sich die sogenannten Kriegsgräberstätten im Emsland ansehen, wo Russen und Ukrainer liegen, die gemeinsam gegen Hitler-Deutschland in den großen „Vaterländischen Krieg“ gezogen seien und ihr Leben im äußersten Westen gelassen hätten. „Heute bezahlen wieder junge russische Männer und eine ukrainische Bevölkerung einen ideologischen, geschichtsverfälschenden Wahnsinn einer Verbrecherbande mit ihrem Leben.“
Er selbst ist in der Gegend, in die er seine Klasse mitgenommen hat, und mit ihrer Geschichte aufgewachsen. Auf dem Reiseplan der Gruppe stehen die Friedhöfe in Meppen-Fullen und Meppen-Versen, die dortige Justizvollzugsanstalt (entstanden auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Versen), wo noch eine letzte Wachmannschaftsbaracke steht, und schließlich die Gedenkstätte Esterwegen. Die ist 2011 nach vielen Widerständen eröffnet worden, wie Hermann Krüssel berichtet. Esterwegen sei eines der ersten Konzentrationslager der Nazis gewesen und das Modell für Auschwitz. „Angelegt auf Vernichtung: Erschöpfung durch Arbeit im Moor, Unterernährung, Misshandlungen und willkürliche Schikanen durch die SA-Wachmannschaften sowie Krankheit. In Fullen herrschten Läuse und die Tuberkulose.“ Entlang der Moorkante, wo heute die A 31 verläuft, entstand eine Reihe Lager, die erst als Konzentrationslager, dann als Strafgefangenenlager und Kriegsgefangenenlager dienten. Bekannt ist neben Esterwegen, das bis 1936 dem späteren Reichsführer-SS Heinrich Himmler unterstand und in dem unter anderen auch der Schriftsteller Carl von Ossietzky inhaftiert war, noch Bögermoor. Dort ist bereits 1933 das Lied der Moorsoldaten entstanden.
In dieser „Hölle im Moor“ übte das Nazi-Regime weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit seine Grausamkeiten aus. Bei ihrem Besuch in der Gedenkstätte lernen die Jugendlichen am Beispiel von hier dokumentierten Einzelschicksalen das ganze Ausmaß kennen. „Die Lagerstraße ist 450 Meter lang. Hier mussten die Gefangenen jeden Morgen lang und wurden gedemütigt und gefoltert. Einen Gefangenen haben sie wie einen Hund gehalten, bis er darum gebettelt hat, ihn zu töten“, berichtet Nele. Über diese Berichte hätten sie ein ganz anderes Gefühl bekommen für das, was dort geschehen ist. Was man sehen und anfassen könne, könne man besser verstehen, werde real. Dass hier nicht alles wieder so aufgebaut worden ist, wie es einmal war, finden die Jugendlichen in Ordnung, dass man zum Beispiel nur Teile des Originalbelags des Lagerwegs mit seinen spitzen Steinen freigelegt hat. Etwas seltsam erscheint ihnen dagegen die Lösung, die Grundrisse der Gefangenenbaracken mit Bäumen nachzuzeichnen. Bäume seien etwas Positives und Lebendiges, und das passe nicht zu dem Leid, das dort geschehen sei.
Hanna
Beeindruckt hat die 9c auch die alte Wachmannschaftsbaracke auf dem Gelände der heutigen JVA, obwohl sie nicht mehr betreten werden darf. Sie ist einsturzgefährdet und akut sanierungsbedürftig. Dass dürfe nicht sein, dass man so ein Zeitzeugnis so verkommen lasse, meinen die jungen Leute. Die Landesregierung Niedersachsens scheine daran – leider – kein Interesse zu haben, stellt Hermann Krüssel fest. Auch die Besuche der beiden Friedhöfe, auf denen vor allem Russen und Ukrainer bestattet sind, sind prägende Erlebnisse. Die meisten Grabsteine haben keine Namen, sind verwittert und mit Moos überzogen. Serge, der Verwandte in der Ukraine hat, hat auf einem umgestürzten Grabstein ein katholisches und ein orthodoxes Kreuz entdeckt. Ein erster Versuch der Versöhnung, findet Krüssel.
„Es ist wichtig, Geschichte zu verstehen und daraus zu lernen, auch aus den Fehlern, die damals zugelassen wurden, damit sich das nicht wiederholt“, sagt Serge. Die anderen stimmen ihm zu: „Es ist wieder Krieg in Europa, und es geschehen schlimme Dinge, deshalb ist es wichtig, Zugang zu Erinnerungen zu haben, um zu zeigen, wie schlimm das sein kann“, erklärt Julius. Helena ist froh, dass sie die Fahrt gemacht haben. „Das Wissen müssen wir weitertragen und andere informieren, damit es nicht wieder passiert.“ Dafür brauche es auch solche kleineren Gedenkstätten wie in Esterwegen. Hanna meint: „Die junge Generation muss darüber erfahren und nicht nur über die großen KZs lernen, sondern auch, was in den kleinen Lagern passiert ist.“ Vergessen und das Geschehene totschweigen, sei ein Schritt in die falsche Richtung. „Jeder Mensch ist in seinem Wesen gleich.“ Damals wie heute.