Bibelteilen hinter Gittern

In der Passionsgeschichte entdecken Häftlinge oftmals ihre eigene Lebensgeschichte wieder

Über die Passionsgeschichte setzen sich die Gefangenen mit ihrem eigenen Lebenslauf auseinander. (c) www.pixabay.com
Über die Passionsgeschichte setzen sich die Gefangenen mit ihrem eigenen Lebenslauf auseinander.
Datum:
31. März 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 14/2020 | Ann-Katrin Roscheck

Er war ein Wanderpriester. Er war ein Heiler. Er war der von Gott zur Erlösung aller Menschen gesandte Messias. Aber er war eben auch ein Gefangener. 

Die Wertschätzung für die eigene Person zurückzugewinnen, das ist das Ziel des Gefängnisseelsorgers Georg Schmalen in der Zusammenarbeit mit den Gefangenen. (c) Ann-Katrin Roscheck
Die Wertschätzung für die eigene Person zurückzugewinnen, das ist das Ziel des Gefängnisseelsorgers Georg Schmalen in der Zusammenarbeit mit den Gefangenen.

Wenn Georg Schmalen im Männergefängnis der JVA Willich im Rahmen des Bibelkurses von der Passionsgeschichte erzählt, sind es vor allem die Parallelen zu den individuellen persönlichen Geschichten, die für lange Momente der Stille sorgen. „Jesus ist von einem seiner engsten Gefährten verraten worden. Das kennen viele Männer hier. Jesus wurde im Dunkeln verhaftet, auch das haben unsere Inhaftierten häufig erlebt. Und nicht zuletzt erfuhr Jesus unendliche Verzweiflung im Rahmen seiner Verurteilung“, schildert der Seelsorger.

„Es tut unseren Inhaftierten gut, zu merken, dass jemand, der als Messias gilt, auch gleichzeitig eine andere Geschichte verkörpern kann.“ Zum ersten Mal bietet der 59-Jährige im Rahmen seiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger ein gemeinsames Bibellesen unter dem Titel „Bibel hinter Gittern“ an. In der JVA Willich 1 sind vor allem diejenigen inhaftiert, die mit schweren Delikten auf den falschen Weg gekommen sind: Hier sitzen rund 430 Männer Freiheitsstrafen bis hin zu einer lebenslangen Haft ab. Das Bibellesen ist eines der unterschiedlichen Angebote, das sie über eine Antragstellung wahrnehmen können. „Die Männer, mit denen ich mich jeden Dienstag treffe, sind sehr unterschiedlich sowohl in ihrer religiösen Festigkeit als auch in den Geschichten ihrer Straftat“, erklärt der Seelsorger. „Was sie aber vereint, ist oft der Zweifel an der eigenen Person. Denn alle leiden unter der eigenen Geschichte.“

Denn die Männer zeichnen sich nicht durch ihre Straftat aus, sie sind Individuen, deren Vergehen oft selbsterlebte Gewalt in der Familie, Rückschläge in der eigenen Biografie oder Zerwürfnisse vorausgegangen sind. „Jeder trägt Schuld, aber die Gründe für diese sind sehr individuell“, erklärt der Theologe. „Die Bibel kann dabei helfen, sich selbst eine neue Chance zu geben, einen Neuanfang zu finden.“ Der Bibelkurs gibt einen geschützten Rahmen, um sich selbst zu reflektieren, seine eigenen Taten und Perspektiven zu überdenken und für sich aus dem Gespräch mit den anderen und dem Auseinandersetzen mit den biblischen Geschichten Kraft zu gewinnen.

„Über uns schwebt das Versprechen, dass niemand etwas aus dem Kurs herausträgt“, schildert Schmalen. Denn Angst und Schwäche im Umgang mit den Mitgefangenen zuzugeben, sei im alltäglichen Gefängnisgeschehen nicht üblich. Jede Bibeleinheit steht unter einem anderen Motto. „Wer war eigentlich Jesus?“, „Was hat er gemacht, und was sind seine Taten?“ werden genauso thematisiert wie seine Verhaftung und seine Verurteilung. Schmalen bereitet dafür, angelehnt an einen Entwurf aus dem Bistum Mainz, Bibelzitate vor und schmückt diese mit persönlichen Fragen, die in der Runde besprochen werden. Eine Szene stellt zum Beispiel die Situation am Ölberg dar: Es ist Nacht, und Jesus hat Angst, er spürt den anstehenden Verrat und bittet seine Jünger, mit ihm zu beten. Auch Schmalen fragt in die Runde, in Bezug auf welche Situationen die Häftlinge Beklemmung empfänden. Einer antwortet: „Ich habe manchmal Furcht vor mir selbst. Dann bin ich über das, was ich getan habe, erschrocken.“ In einer anderen Szene erklärt der Seelsorger die Auferstehung und fragt in den Raum, welche Steine die Gefangenen jeden Tag für sich aus dem Weg zu räumen haben. Ein Zweiter kommentiert: „Das Aufstehen gegen die Lustlosigkeit, gegen die Gleichgültigkeit hier in diesen grauen Mauern bringt mich immer wieder an meine Grenzen.“

Und auch zur Geschichte über die Jünger von Emmaus, die den Auferstandenen, ohne ihn zu erkennen, über Nacht in ihr sicheres Quartier einladen und ihm in seiner Not Schutz geben, findet einer der Teilnehmer klare Worte: „Auch wenn sich alle abgewandt haben, war ich in meiner Not nie alleine. Denn einer war noch da, Jesus.“ Für Georg Schmalen sind diese ehrlichen Bekenntnisse Fortschritte in der eigenen Reflexion und Aufarbeitung. „Die Religion kann dazu beitragen, ohne Bewertung auf das Leben zu schauen“, erklärt er. „Wer sich selbst wohlwollend begegnet, ist auch offen dafür, nach der Zeit im Gefängnis sich ein wertschätzendes Leben aufzubauen.“ Die Passionsgeschichte schafft dabei für Schmalen ein Instrument, um durch einen unverstellten Blick auf Jesus Gottes Botschaft spürbar zu machen. „Wir alle werden von Gott geliebt“, erklärt er. „Im Zusammenhang mit der Gefängnisseelsorge ist dieses Gottesversprechen besonders wichtig.“

Nicht nur der Bibelkurs gehört zu den Angeboten der JVA-Seelsorge, auch Gespräche unter vier Augen mit dem Seelsorger sowie wöchentliche Gottesdienste und nun vor Ostern ein zusätzlicher Kurs zum Kreuzweg sind Teil des Portfolios des 59-Jährigen. Auf evangelischer Seite schafft ein Kollege ähnliche Angebote, und auch den muslimischen Häftlingen steht ein Ansprechpartner zur Seite. „Alle internen Kurse halten wir auch in Zeiten von Corona aufrecht“, erklärt der JVAMitarbeiter. Gibt es aktuell in den Gefängnissen Besuchssperren für Angehörige der Häftlinge, kämpfen viele Gefangene mit Einsamkeit und Ängsten um die soziale Beziehung. „Die kalten Mauern sind da ein natürlicher Verstärker, und wir müssen versuchen, den Alltag so gut es geht, aufrecht zu erhalten“, schildert Schmalen. „Auch der Glaube kann an dieser Stelle helfen, Strukturen zu schaffen.“