Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Aachen,
vor nahezu drei Jahren, am 12. November 2020, hatten wir im Bistum Aachen ein Gutachten der Münchener Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker entgegengenommen und veröffentlicht.
Zeitgleich damit hatten wir einen öffentlichen Aufruf getätigt und Betroffene darum gebeten, uns sexuellen Missbrauch durch Kleriker mitzuteilen.
Dies war damals der erste große Schritt nach der Veröffentlichung der deutschlandweiten sogenannten MHG-Studie 2018, um in unserem Bistum mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs zu beginnen. Seitdem ist viel geschehen.
Zahlreiche Betroffene haben sich bei uns gemeldet. Unabhängige Ansprechpersonen stehen ihnen zum Gespräch zur Verfügung. Über eine niedrigschwellige Plausibilitätsprüfung können Betroffene eine finanzielle Anerkennung ihres Leides bei einer Unabhängigen Kommission in Bonn erfahren, auch wenn die Täter bereits verstorben oder ihre Taten verjährt sind.
Wir wissen, dass das erlittene Leid niemals durch Geld wiedergutgemacht werden kann. Es bedeutet aber zumindest eine Anerkennung dieses unsäglichen Leids, das mir auch viele Betroffene in persönlichen Gesprächen offenbart haben. Selbstverständlich steht den Betroffenen darüber hinaus auch der weitere Rechtsweg offen. Im Zuge eines Zivilprozesses können sie die kirchlichen Behörden auf ihre Amtshaftung für die Täter verklagen.
In einem Kölner Fall hat ein Betroffener auf diesem Weg jüngst eine deutlich höhere Schmerzensgeldsumme erreicht. Das war ein guter Tag für die Betroffenen. Und natürlich wird dieses Urteil auch Einfluss auf die künftig auszuzahlenden Summen durch die Bonner Kommission haben.
Desweiteren ist in unserem Bistum ein eigener Betroffenenrat gebildet worden, der unsere Arbeit kritisch begleitet und allen Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite stehen will.
Darüber hinaus hat schließlich seit 2021 eine Unabhängige Kommission in unserem Bistum ihre Arbeit aufgenommen. Sie setzt sich sehr unterschiedlich zusammen aus zwei Vertretern der Betroffenen sowie aus Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Fachpraxis und öffentlicher Verwaltung. Diese Personen wurden zum einen von der Landesregierung benannt, zum anderen auch von uns als Bistum um ihre Mitarbeit gebeten.
Die Kommission treibt im Anschluss an das Münchener Gutachten von 2020 die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in unserem Bistum voran.
Für viele Betroffene geht all das jedoch viel zu langsam und steht in keinem guten Verhältnis zu dem, was sie erlitten haben und worunter sie bis heute leiden.
Viele bringen ihre Erwartung zum Ausdruck, dass ihr eigener Fall weiter persönlich aufgearbeitet werden soll. Viele sehnen sich danach, durch solche Aufarbeitung zu einem Abschluss ihrer Leidensgeschichte zu kommen. Viele drücken ihr Verlangen nach Gerechtigkeit aus, die darin besteht, dass die Täter und ihre Taten nicht verschwiegen, sondern benannt und sie dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.
Wir müssen aber auch davon ausgehen, dass es viele Betroffene gibt, die bislang nicht dazu fähig oder bereit waren, aus dem Dunkelfeld herauszutreten und sich mitzuteilen und den Namen des Täters zu nennen. Auch dafür habe ich Verständnis.
Deshalb haben wir im Bistum Aachen am vergangenen Mittwoch einen weiteren öffentlichen Schritt gewagt und hoffen dabei, dass wir die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in unserem Bistum deutlich voranbringen können.
Wir haben 53 Namen von Priestern unseres Bistums – Tätern und mutmaßlichen Tätern – veröffentlicht, zu denen uns konkrete belastbare Beschuldigungen vorliegen. Damit verbunden ist der Aufruf an die Öffentlichkeit, uns weitere Informationen zukommen zu lassen, die der Aufarbeitung dienen.
Insbesondere soll dieses Vorgehen aber den Betroffenen zugute kommen: zum einen, weil sie mit der öffentlichen Nennung des Namens ihres Täters nicht mehr allein bleiben, zum anderen, weil vielleicht weitere Betroffene so das Vertrauen schöpfen, aus dem Dunkelfeld herauszutreten.
Diesen Schritt tun wir nicht leichtfertig, sondern erst nach langem Abwägen und verbunden mit vielen flankierenden Maßnahmen.
Datenschutzrechte, die Unschuldsvermutung bei fehlenden Beweisen und die Gefahr einer Stigmatisierung, sofern sich ein Vorwurf im Nachhinein als unbegründet erweist, stehen auf der einen Seite, die Erwartung von Aufarbeitung und Gerechtigkeit auf der anderen.
Zudem wirkt die Nennung der Namen der beschuldigten Priester immer auch auf alle anderen zurück, die mit ihnen verbunden waren. Nicht wenige reagieren persönlich tief verunsichert und entsetzt darauf, dass ein Priester, den sie in guter Erinnerung haben, als Täter beschuldigt wird.
Alle diese Belastungen und Erschütterungen gehören aber zur Aufarbeitung der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs dazu. Sie bleibt nie nur den Betroffenen oder den eigens dazu bestellten Fachleuten überlassen, sondern bezieht alle mit ein. Besonders dann, wenn jemand eigenes Wissen über einen Beschuldigten mitteilen kann.
Wahrscheinlich entsteht durch die Nennung der Namen an nicht wenigen Stellen unseres Bistums großer Gesprächsbedarf. Um solche Gespräche konstruktiv vor Ort führen zu können, stehen Fachleute zur Moderation bereit, an die Sie sich wenden können.
Für die Betroffenen gibt es ab sofort eine Telefon-Hotline, über die ihre Meldungen angenommen und in ihrem Sinne bearbeitet werden. Sie können sich auch über ein Formular auf der Website des Bistums melden. Alle Meldungen werden vertraulich und professionell behandelt.
Liebe Schwestern und Brüder, ich hoffe, dass wir mit diesem Schritt der Gerechtigkeit näher kommen, die die Betroffenen zu Recht von uns erwarten. Im heutigen Sonntagsevangelium wird Jesus von den Pharisäern in eine scheinbar unlösbare Falle gelockt: Sie wollen ihn dazu bringen, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Jesus aber entgeht dieser Falle: Ja, die an ihn glauben, sollen dem Kaiser Steuern zahlen. Sie dürfen sich den Gesetzen des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens nicht entziehen. Doch damit ist die ganze Gerechtigkeit noch längst nicht getan: Denn der Mensch muss auch Gott geben, was Gott gehört! Wie aber geht das?
Indem wir anerkennen, dass jeder Mensch und wir selbst nicht nach dem Bild des Kaisers, sondern nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Nicht das, was der Welt genügt, ist genug, sondern das, was Gott entspricht, muss unser Maß sein!
Für uns als Kirche heißt das, dass wir immer neu lernen müssen auf der Seite der Recht-losen und der Verletzten zu stehen. Ihre Belange müssen uns wichtiger sein als das Ansehen der Kirche.
Und im Falle ernsthafter Beschuldigungen auch wichtiger als der gute Ruf eines verstorbenen, aber beschuldigten Priesters. Das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung muss mehr wiegen als der Schutz von Tätern.
Dass es nicht leicht ist, diesen Weg konsequent zu gehen, spüren wir alle sehr deutlich. Wir werden über all das sicher nicht einer Meinung sein. Das müssen wir aushalten. Kontroverse Diskussionen sind unvermeidlich und nötig und helfen der Vergewisserung und Verarbeitung. Aber ich hoffe, dass wir gemeinsam weitergehen!
Ich bitte Sie deshalb herzlich um ihr Gebet: für die Betroffenen, für alle, die heute in der Kirche Verantwortung tragen, aber auch für die schuldig gewordenen Täter.
Ich bin überzeugt: Wir arbeiten eine vergangene Epoche unserer Kirche auf! Heute wären die Strategien der Täter, mit denen sie ihre Verbrechen anbahnen und wiederholt begehen konnten, nicht mehr unerkannt und konsequenzenlos durchführbar: unsere Präventionsmaßnahmen, unsere Interventionsregeln und die Veränderung unseres Bewusstseins über die verheerenden Folgen sexueller Gewalt sorgen dafür, dass heute solche Verbrechen und ihre Vertuschung in unserer Kirche verhindert werden.
Wir alle dürfen deshalb nicht aufhören, wachsam zu sein: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen und Schutzbefohlenen muss überall verhindert und angezeigt werden!
Um dieses Bewusstsein zu stärken und zu vertiefen, bedarf es der weiteren Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit. Ich hoffe, Sie alle können dieses Anliegen unterstützen und dazu beitragen!
Ihr Bischof
+ Helmut