Der Tod eines Angehörigen zieht einem buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. So haben es auch die Psychologin Nele Stadtbäumer und Daniel Bachmann erlebt. Aus ihren Erfahrungen heraus haben sie „grievy“ entwickelt, eine App, die Schritt für Schritt dabei hilft, mit der Trauer umzugehen und gut durch diese schwierige Zeit zu kommen.
Frau Stadtbäumer, wie hilft eine App bei der Trauerarbeit?
Unser primäres Ziel war es, eine professionelle Trauerbegleitung anzubieten, die niedrigschwellig und anonym möglich ist. Viele Trauernde wünschen sich mehr Unterstützung und fühlen sich allein gelassen.
Bei den bestehenden Angeboten zur Trauerbegleitung gibt es für viele oft noch die Hemmschwelle, dass man mit einer fremden Person über die eigene Trauer sprechen muss, dort anrufen oder zu Treffen gehen muss.
Hier setzt die App an. Sie bietet Begleitung in Echtzeit, die jederzeit abrufbar ist, ganz nach den persönlichen Bedürfnissen.
Wie funktioniert das genau?
Die App bietet verschiedene interaktive Funktionen an, darunter ein Trauer-Tagebuch oder tägliche Impulse und Übungen. Daneben haben wir über 150 Kursmodule entwickelt, die bei der Trauerarbeit unterstützen.
Die Inhalte werden von Psychologinnen und Psychotherapeutinnen erarbeitet. Nutzerinnen und Nutzer können wählen, ob sie nur mit Hilfe der App arbeiten oder diese ergänzend zu einer persönlichen Trauerbegleitung nutzen.
Hier haben wir gute Erfahrungen im Bistum Aachen mit dem Trauerprojekt „Diesseits“ gemacht. Generell geht es uns darum, trauernden Menschen gutes Handwerkszeug an die Hand zu geben, denn die Trauer bleibt ein Leben lang, sie verändert sich.
User lernen, mit den verschiedenen Phasen umzugehen, Stabilität zu gewinnen. Wie lange das dauert und wann diese Arbeit abgeschlossen ist, entscheidet jede und jeder für sich selbst.
Wir arbeiten am Ausbau des Angebots. Aktuell läuft eine Testphase, in der wir persönliche digitale Trauerbegleitung und auch Gruppentreffen anbieten. Außerdem möchten wir auch Angebote zu weiteren Trauerarten machen, beispielsweise Trauer nach einer Trennung oder nach Jobverlust.
Wie ist die Idee zur App entstanden?
2019 ist mein Vater plötzlich verstorben, und ich habe selbst erlebt, wie sich tiefe Trauer anfühlt. Zu der Zeit schrieb ich an meiner Promotion, die sich mit E-Health und Apps zur Gesundheitssteigerung befasst hat.
Über meine Promotion habe ich auch Daniel Bachmann und Aenis Chebil, meine Mitgründer von „grievy“, an der FH Aachen kennengelernt, weil ich auf der Suche nach Programmierern war.
Wir entwickeln die App seit gut zwei Jahren, im März 2023 haben wir offiziell gelauncht.
Seitdem begleiten wir über 5000 Trauernde über die App. Die Entwicklung einer App ist teuer, daher können wir sie auch nicht komplett kostenfrei anbieten.
Das Herunterladen ist kostenfrei, ebenso einige Anwendungen wie das Trauer-Tagebuch. Das Bezahlmodell liegt zwischen 9 und 15 Euro. Wir kooperieren mit Bestattungsunternehmen, die zum Teil auch die Kosten für die App übernehmen.
Inzwischen haben wir durch öffentliche Stipendien auch die Finanzierung auf solidere Füße gestellt. Anfangs haben wir die Entwicklung selbst finanziert.
Wer nutzt die App? Haben Sie eine bestimmte Zielgruppe im Auge?
Der Altersdurchschnitt liegt tatsächlich zwischen 50 bis 60 Jahren. Damit ist die Annahme widerlegt, nur jüngere Menschen würden die App nutzen. Der jüngste Nutzer ist 14, der älteste 84 Jahre.
Wie erklärt sich das hohe Durchschnittsalter?
Je älter wir werden, desto größer ist die Chance, Angehörige zu verlieren oder Einsamkeit zu erfahren. Dann haben wir es auch mit einer Generation zu tun, für die es eher noch befremdlich ist, sich mit der eigenen geistigen Gesundheit auseinanderzusetzen, sich gegebenenfalls auch Hilfe zu holen.
Die jüngere Generation ist, was Mental Health angeht, im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusster.
Zu guter Letzt kommt noch hinzu, dass auch ältere Menschen technikaffin sind. Die App ist daher so konzipiert, dass sie für alle Altersstufen gut bedienbar ist.
Wie hat sich unsere Art zu trauern verändert und was bräuchte es, um das Thema aus der Tabu-Zone zu holen?
Früher gab es Rituale, die der Trauer mehr Raum gaben. Die Trauerkleidung ist ein Beispiel. Generell bräuchte es einen offeneren Umgang mit der Trauer.
Die Trauer- und Bestattungskultur ist insgesamt sehr starr, und es bräuchte dort mehr frischen Wind und den Mut, neue Formen des Umgangs mit Sterben, Tod und Trauer zu entwickeln, damit sich auch jüngere Generationen gut abgeholt fühlen.
Das Gespräch führte Kathrin Albrecht.
Die „grievy“-app ist für Android-Smartphones und I-Phones zum Herunterladen in den jeweiligen Stores erhältlich. Weitere Infos gibt es unter https://grievy.de. Das Bistum Aachen hat die Entwicklung der App über den Digital Hub finanziell unterstützt. Die Trauerseelsorge im Bistum bietet verschiedene Angebote unter https://www.bistum-aachen.de/ Seelsorge/Trauerseelsorge/index.html