Jeden Samstag lädt die Gemeinschaft Sant’Egidio in Mönchengladbach Menschen ein, mit denen es das Leben nicht so gut meint. Sie sind einsam, leben von der Grundsicherung, sind obdachlos oder mussten aus ihrer Heimat fliehen. Manche von ihnen kochen und servieren mit, andere freuen sich, dass sie wie in einem Restaurant das Essen serviert bekommen. Was sie alle eint: der respektvolle Umgang miteinander.
Schon der Duft im Treppenhaus bringt Peter* zum Lächeln. Der Mann ist gerade von der Straße gekommen, geht die Treppe schweren Schrittes hinauf und bleibt am Eingang zu den Räumen von Sant‘Egidio stehen. „Hallo, schön, dass Du da bist“, wird er begrüßt, gleichzeitig trifft ein Strahl Desinfektionsmittel seine Hände. Peter verteilt die Flüssigkeit auf seinen Fingern, dann wirft er einen Blick in die Küche. Heute gibt es panierten Fisch mit Gemüsereis. Der obdachlose Mann lächelt, als er in den Gastraum von Sant‘ Egidio tritt und sich einen Platz an den Tischen sucht.
Jeden Samstagmittag werden die Räume in der 1. Etage des Franziskusklosters zur Mensa. Die Gemeinschaft Sant‘Egidio lädt Menschen ein, die es ansonsten nicht leicht im Leben haben. Sie leben am Existenzminimum, haben nur eine schmale Rente, leben von Hartz IV, sind psychisch oder körperlich so krank, dass sie keiner Arbeit nachgehen können. Manche sind aus ihrer Heimat geflüchtet, andere flüchten mit Hilfe des Alkohols regelmäßig aus der Realität. Die ist für alle, die hier sind, schwer zu meistern. Besonders hart ist sie für die Gäste, die obdachlos sind.
Der Raum ist gefüllt von den Stimmen der Menschen, die an den Tischen in Gespräche vertieft sind. Die Themen sind nicht anders als bei anderen Menschen: Fußball, wo gibt es gute Angebote, das Wetter und das Essen. „Wir kommen gerne hierhin“, sagt Maggie*. „Nicht nur wegen des Essens, sondern weil man hier viele Leute trifft.“ Ein Bekannter hat die 58-Jährige mal an diesen Ort mitgenommen. Seitdem kommt Maggie etwa einmal im Monat mit einem Freund hierhin. „Wir können nicht öfter, weil wir auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen sind“, sagt Maggie. An der Stelle wird es kompliziert, denn Hans* sitzt im Rollstuhl.
Heute haben es die beiden aber geschafft. Draußen ist es kalt, aber die Sonne scheint. Ideale Bedingungen, wenn man nicht so mobil ist. Gerade haben Maggie und Hans an einem Tisch Platz genommen. Sie brauchen nicht lange warten, da bekommen sie schon ihr Essen. Am Franziskustisch werden die gut gefüllten Teller an die Tische gebracht – wie in einem Restaurant. Auch die Architektur des Raums mit seinen Spitzbögen und den kleinen Nischen erinnert an ein Restaurant. Hier haben früher die Ordensbrüder ihre Zimmer gehabt.
Hans mag Fisch nicht so gerne, Maggie findet Reis nicht so toll. Also bekommt sie etwas von seinem Fisch, er nimmt etwas von ihrem Gemüsereis. Als Angela Müller an dem Tisch vorbei kommt und ein paar Worte mit den beiden redet, erzählen die von ihrer Essensstrategie. „Wir haben auch Chili con carne“, sagt Angela Müller zu Hans. „Ich bringe Dir gleich einen Teller.“ Zwei Minuten später steht ein Teller mit dem dampfenden Eintopf auf dem Tisch. Hans freut sich und genießt es sichtlich, so umsorgt zu werden.
Von Anfang an ist die familiäre Atmosphäre spürbar. Wer hier zum Essen kommt, wird als Gast auf Augenhöhe behandelt. Das Wort „bedürftig“ fällt hier nicht. Unter den Gästen gibt es immer wieder welche, die irgendwann nicht mehr nur Gäste, sondern auch Gastgeber sind. In der Küche legt Cice gerade ein paar Stücke des panierten Fischs auf die Teller, dann reicht sie ihn an Eberhard weiter. Der steht auf der anderen Seite der Ausgabe und ist heute für den Gemüsereis zuständig. Am Ende der Kette steht Khadija und gibt die Soße dazu, bevor Gabriela den Teller in Empfang nimmt, um ihn zu servieren.
Cice ist vor gut zehn Jahren mit ihren Kindern aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Die ersten acht Monate hat die heute 36-Jährige mit ihrer Familie in der Flüchtlingsunterkunft Bockersend gewohnt. „Das war eine sehr harte Zeit für mich“, erinnert sie sich. Die hygienischen Zustände in den sanitären Einrichtungen waren sehr schlecht, auch die Gemeinschaftsküche war eher unappetitlich. Dazu hat die Enge der Unterkunft und ihre unklare Lage die Bewohner gestresst. Es gab oft Streit.
Schon 2010 war die Unterbringung von Geflüchteten in den Holzbarracken in Mönchengladbach umstritten. Mit dem Einsetzen des Flüchtlingsstroms aus Syrien lebten 2015 bis zu 110 Personen in den Räumen. Im Oktober 2016 wurden die Holzbarracken schließlich abgerissen und geflüchtete Menschen in anderen Einrichtungen untergebracht.
Für Cice und ihre Kinder änderte sich das Leben, als sie Manuela und Gabi Brülls kennenlernte. Die beiden Schwestern sind die Gründerinnen der Mönchengladbacher Sant‘-Egidio-Gemeinschaft. Mit ihrem Team sind die Zwillingsschwestern in die Flüchtlingsunterkünfte gegangen, um den Menschen dort zu helfen. Sie haben mit den Kindern gespielt und gesungen, den Erwachsenen haben sie beim Umgang mit Behörden geholfen, ihnen zugehört und sie zum Franziskustisch eingeladen. So ist auch Cice mit ihren Kindern gekommen. Heute hilft die 36-Jährige tatkräftig mit, während ihre Kinder im Nebenraum der Regenbogenschule mit anderen Kindern spielen und Hausaufgaben machen.
Wer wissen will, wie Weltfrieden geht, sollte einen Blick in die Küche des Franziskustisch werfen. Frauen aus mehreren Nationen, die zum Teil politisch miteinander verfeindet sind, arbeiten und lachen hier miteinander, während ihre Kinder friedlich im Zimmer nebenan spielen. Überhaupt sind die Beziehungen untereinander sehr vernetzt. Gabriela aus Deutschland, die gerade drei neue Teller rausbringt, hilft Ali, dem Sohn von Amina (Afghanistan), regelmäßig bei den Hausaufgaben. Fatima aus Syrien ist die beste Freundin von Amina. Die beiden haben sich beim Franziskustisch kennengelernt. Ala ist die Schwester von Fatima und arbeitet auch in der Küche mit.
Khadija kommt aus Syrien. Während sie in der Küche zwischen der Essensausgabe und der Spülstation hin- und herpendelt, besuchen auch ihre vier Kinder die Regenbogenschule. Ihr Großer, der 16-jährige Sohn, wird dort nicht mehr betreut. Er hat die Rolle gewechselt und hilft nun seinerseits den Kleinen bei den Hausaufgaben.
An der Spülmaschine herrscht beste Stimmung. Die Mittagszeit neigt sich dem Ende zu und immer mehr Teller und Besteck finden den Weg zurück in die Küche. Die Spülmaschine läuft nonstop und auf der Arbeitsfläche sind Küchentücher ausgebreitet, auf die das frisch gespülte Besteck gekippt wird. Während sie Gabeln, Messer und Löffel polieren und die Spülmaschine immer wieder neu füllen, unterhalten sich die Frauen und lachen. Am Ende haben sie alle die gleichen Sorgen – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Sie wollen ein gutes Leben für ihre Kinder und dass sie eine gute Zukunft haben. Dafür haben sie ihre Heimat verlassen. Manche haben ihre eigenen Eltern und Geschwister zurückgelassen.
Rund 80 Personen kommen an den Samstagen zum Franziskustisch. „Es werden immer mehr“, stellt Manuela Brülls fest. „Und es gibt noch welche, die das Essen mitnehmen. Das sind Leute, die die Enge in den Räumen oder die Lautstärke nicht ertragen können.“ Aber auch Peter, der hier an einem Tisch Platz genommen hat, wird sich nach dem Essen noch eine Portion einpacken lassen. Am Ende des Tages wird alles verteilt sein.
„Die Begegnung mit Menschen ist der Kern des Franziskustisches“, sagt Manuela Brülls. „Es gibt hier auch sehr wenig Streit, obwohl die Leute oft sehr viel Grund hätten, aufgebracht zu sein.“ Viele fühlten sich ungerecht behandelt und von der Politik und der Gesellschaft im Stich gelassen. Die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen hat dieses Gefühl oft noch verstärkt. Auch der Franziskustisch war davon betroffen. Das Team hat das Essen draußen ausgegeben, so dass die nötigen Abstände gewahrt werden konnten. Für die meisten Menschen, die hierhin kommen, ist der Alltag schwer zu bewältigen. Sie haben Existenzängste. Dazu kommen oft Krankheiten. Manche trauen sich nicht zum Arzt oder sind nicht krankenversichert. Das betrifft besonders obdachlose Menschen. „Viele sterben Jahre früher“, sagt Manuela Brülls, die beruflich als Streetworkerin bei der Diakonie arbeitet. Auch Leute aus arabischen Ländern kommen zum Franziskustisch. „Sie sind froh, dass sie gesehen werden und ihnen mal jemand zuhört“, sagt Brülls.
Nicht nur das Essen hält die Gemeinschaft zusammen. Regelmäßig feiert das Team mit seinen Gästen Gottesdienste. Dafür nutzt die Gemeinschaft die Antoniuskapelle, direkt neben der Klosterkirche St. Barbara. An den Gottesdiensten nehmen viele Gäste des Franziskustisches teil. Auch wenn die meisten eher kirchenfern sind oder muslimischen Glaubens. „Wir fragen einige, ob sie uns helfen wollen“, sagt Brülls. „Manche tragen für uns das Kreuz oder die Kerze.“ Der Glaube und die Lehre des Evangeliums sind für das Team von Sant‘Egidio die Motivation für ihre Arbeit. „Das Evangelium ist zuerst den Ausgegrenzten verkündet worden“, erinnert Manuela Brülls. „Durch sie verstehen wir besser, was Christsein auch für uns bedeutet.“ Aus dem Gastraum klingt nun Klaviermusik. Zum Abschluss gibt es noch eine Tasse Kaffee.
Hiltrud Döhmen geht mit der großen Kanne herum. Sie ist Mitglied im Zonta-Club I in Mönchengladbach und hilft hier regelmäßig mit. Bei ihren Club-Schwestern hat sie Werbung für den Franziskustisch gemacht. Sant‘ Egidio finanziert sich ausschließlich über Spenden. 300 Euro kostet der Franziskustisch pro Ausgabetag. Einen Tag im Monat trägt nun der Serviceclub von Hiltrud Döhmen mit einer regelmäßigen Spende die Kosten dafür. „Das ist eine gute Sache“, findet sie. „Alle kommen hier zusammen. Dabei sind die Kinder versorgt, wenn ihre Mütter kochen und backen.“
Auch kulturell bekommen die Gäste noch etwas Nahrung zum Dessert. Andreas Müller hat am Klavier Platz genommen und vor sich das Notenbuch aufgeschlagen. Das Klavier stammt noch von Dagmar Schmidt, die 2017 gestorbene Mitgründerin der Mönchengladbacher Gemeinschaft. Auch an sie erinnert der Klang des Instruments. Müller setzt sich einfach ans Klavier, schlägt sein Notenbuch auf und spielt. „Ich bin Rentner und esse auch hier“, sagt der 68-jährige gelernte Kirchenmusiker. Noch heute spielt er in Kirchen und singt in zwei Chören. Musik ist seine Leidenschaft, an der er hier andere teilhaben lässt.
Diesem Vertrauen und dem Stolz, selbst auch etwas geben zu können, begegnet man hier oft. Auch Helmut kommt regelmäßig zum essen. Er ist gelernter Koch und Konditor. Klar, dass der 69-Jährige Kulinarisches einbringt. „Zu Ostern mache ich immer Hefezöpe nach einem 100 Jahre alten Rezept“, sagt er. Von früheren Jahren hat er Fotos gemacht, die er damals Manuela Brülls geschickt hat. Sozusagen als Appetitanreger. „Ich habe früher in der Kantine des Wirtschaftsministeriums gearbeitet“, erzählt Helmut. In seinem Berufsleben hat er 1200 Essen pro Arbeitstag über den Pass gereicht. Da sind 80 Essen für ihn ein Klacks. Mit 14 Jahren ist er in die Lehre gegangen. Nun, gut 50 Jahre später, ist er Rentner.
Obwohl der Hintergrund bei niemandem hier eine Rolle spielt, sind die Unsicherheiten groß. „Wir werden viel gefragt, ob es auch in diesem Jahr das Weihnachtsessen gibt“, sagt Manuela Brülls. „Oft versichern sich die Leute, ob sie eine Einladung bekommen, weil sie Angst haben, vergessen zu werden.“
*Namen von der Redaktion geändert
Weihnachtsessen Am ersten Weihnachtstag lädt die Gemeinschaft Sant’Egidio Mönchengladbach ihre Freunde zu einem großen Weihnachtsessen in die Citykirche Mönchengladbach ein. Dann wird der Kirchenraum zu einem großen Festsaal mit langen eingedeckten Tischen, an dem die Gäste Platz nehmen.
Einladungen Der Gästekreis besteht aus den Freunden, um die sich Sant’Egidio das ganze Jahr über kümmert. Neben den Gästen des Franziskustischs sind das auch Bewohnerinnen und Bewohner des Altenheims Windberg. Jeder Gast bekommt für das Festessen eine persönliche, schrifliche Einladung. Traditionell werden auch ein paar Plätze für Obdachlose eingedeckt, die spontan vorbeikommen.
Bescherung Neben dem Essen ist auch eine Bescherung Teil des Festes. Die Kinder bekommen Spielzeuge, die sie sich gewünscht haben. Für die Erwachsenen gibt es Praktisches wie Schals und Handschuhe oder besondere Pflegemittel wie eine Hautlotion. Zudem singen die Kinder der Regenbogenschule Weihnachtslieder.
Unterstützung Neben Geldspenden zur Finanzierung freut sich die Gemeinschaft über tatkräftige Unterstützung der Weihnachtsfeier am ersten Feiertag in Mönchengladbach. Wer gerne beim Aufbau, der Durchführung und beim Abbau helfen möchte, kann sich direkt an die Gemeinschaft wenden. Info und Kontakt sind unter der E-Mail-Adresse sant.egidio@t-online.de möglich.